spiegel.de, 01.05.2015 http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-istanbul-wird-am-tag-der-arbeit-zur-geisterstadt-a-1031695.html Proteste am Tag der Arbeit: Verletzte und Festnahmen in Istanbul Von Hasnain Kazim, Istanbul Normalerweise ist die Innenstadt von Istanbul überfüllt. Am Tag der Arbeit hat die Polizei sie abgeriegelt, um Proteste auf dem Taksim-Platz zu verhindern. Bei Zusammenstößen mit Demonstranten gab es mehr als 200 Festnahmen und Dutzende Verletzte. Hülya legt eine Rose nieder am Eingang einer Seitenstraße zum Taksim-Platz. Sie ist müde, zwei Stunden hat sie zu Fuß gebraucht bis ins Herz von Istanbul, für eine Strecke, für die sie üblicherweise zwanzig Minuten benötigt. "Alles abgeriegelt", sagt sie. Überall Polizei. Das Zentrum von Istanbul ist an diesem 1. Mai eine Geisterstadt: so leer wie selten. Viele Straßen sind abgesperrt, darunter auch die bei Touristen beliebte Haupteinkaufsstraße Istiklal Caddesi, die zum Taksim-Platz führt. Überall stehen Polizisten hinter mannshohen metallenen Zäunen und erklären den Menschen, dass es heute kein Durchkommen gibt. Manche erklären verzweifelten Touristen, die ein Taxi mehrere Kilometer von ihren Hotels entfernt abgesetzt hat, über welche Umwege sie zu ihren Zielen kommen. 10.000 Polizisten sollen im Einsatz sein, um ein Durchkommen zum Taksim-Platz zu verhindern: Uniformierte ebenso wie Zivilpolizisten, die an allen Ecken herumstehen und die wenigen Passanten beobachten. Der Fernsehsender CNN Türk berichtet sogar von 21.000 Sicherheitskräften. Touristen und Reporter, die den Männern an den Zäunen lange genug auf die Nerven gehen, werden gelegentlich doch durchgelassen. So wie Hülya. Sie will der Menschen gedenken, die am Taksim-Platz am 1. Mai 1977 ums Leben kamen. Damals versammelten sich hier bis zu eine halbe Million Menschen, es war eine beeindruckende Kundgebung. Mehrere Gewerkschafter hielten eine Rede, als plötzlich von den Dächern zweier umliegender Gebäude, unter anderem dem heutigen Marmara-Hotel, Schüsse fielen. Wer damals mit scharfer Munition in die Menge feuerte, ist bis heute nicht geklärt. Die Polizei verschärfte die Panik, als sie mit Panzerwagen in die Menge fuhr. Durch die Schüsse und in dem anschließenden Gedränge starben mehr als 30 Menschen. Hülya sagt, sie könne nachvollziehen, dass der Staat jetzt so streng sei am 1. Mai. "Er will verhindern, dass so etwas wieder passiert." Aber dass man den Menschen gleich ganz das Recht nehme zu demonstrieren, findet sie nicht gut. "Das schürt die Unzufriedenheit." "Wir wollen keinen Faschismus!" So sehen das auch mehrere Linke, Vertreter von Gewerkschaften und Mitglieder von Carsi, dem Fanclub des Fußballvereins Besiktas: Vielleicht 2000 Menschen haben sich im Stadtteil Besiktas eingefunden und wollen trotz Sperren zum Taksim-Platz ziehen. "Der Taksim-Platz ist der Platz des 1. Mai", rufen sie. Und: "Wir wollen keinen Faschismus!" Manche tragen Plakate mit dem Bild von Berkin Elvan, jenem Jungen, der während der Gezi-Proteste im Sommer 2013 von einer Gaskartusche getroffen wurde, die ein Polizist abgefeuert hatte, und nach neun Monaten im Koma starb. "Warum dürfen wir nicht friedlich unsere Meinung sagen?", schimpft ein Gewerkschafter. Ein paar Straßen vom Taksim-Platz entfernt stehen ein paar Vermummte. Sie haben Zwillen dabei, einige halten Steine in den Händen. Einer fummelt an einer Bierflasche herum, offensichtlich ein Molotowcocktail. Aus mehreren Stadtteilen werden brennende Barrikaden gemeldet. Ein paar Kommunisten gelingt es, die Polizeisperren zu durchbrechen. Mitten auf dem so stark geschützten Platz schwenken sie rote Flaggen mit Hammer und Sichel, bis sie festgenommen und abgeführt werden. Die erste Bilanz: Nach offiziellen Angaben wurden mindestens 24 Menschen verletzt. Bei ihnen handele es sich um 18 Demonstranten und sechs Polizisten, sagte Istanbuls Gouverneur Vasip Sahin. 203 Menschen seien festgenommen worden. Manche der Demonstranten sind eben doch nur auf Randale aus. "Das sind Ausnahmen", sagt ein Gewerkschafter. "Das sind bestimmt Leute, die die Regierung geschickt hat, um ihren Polizeistaat zu rechtfertigen", erläutert ein jugendlicher Demonstrant seine Verschwörungstheorie. "Das sind Idioten, die es leider in allen politischen Lagern gibt", sagt Hülya, nachdem sie ihre Rose niedergelegt hat. Die Polizei setzt stellenweise Wasserwerfer und Tränengas ein. Polizeihubschrauber kreisen am Nachmittag über der Stadt. Der Taksim-Platz ist seit 1977 ein symbolträchtiger Ort, gerade am 1. Mai. Immer wieder wurden hier Demonstrationen an diesem Tag verboten. Hier begannen 2013 aber auch die Gezi-Proteste, als sich eine Kundgebung gegen das Abholzen von Bäumen im nebenan gelegenen Gezi-Park zu einem landesweiten Protest gegen den autoritären Regierungsstil des damaligen Premierministers und heutigen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan ausweitete. Seither gilt der Platz als Ort der Regierungskritik, auch deshalb, vermuten Oppositionelle, dürfe hier keine Demonstration mehr stattfinden. Premierminister Ahmet Davutoglu wies trotz der Sperren und Polizeipräsenz zurück, dass nicht demonstriert werden dürfe. Wer "symbolisch" protestieren wolle, sei "sehr willkommen, das respektvoll zu tun", sagte er am Donnerstag. In der Türkei wird am 7. Juni gewählt, und jetzt, mitten im Wahlkampf, dürfe niemand "Chaos im Land verursachen". Ein Maifeiertag wie 1977 dürfe es nicht mehr geben, erklärte er. Präsident Erdogan
betonte, die Menschen dürften an acht ausgewiesenen Orten demonstrieren.
Wer dennoch zum Taksim-Platz strebe, wolle der Türkei schaden. Mitglieder
linker Gewerkschaften und der Oppositionsparteien CHP und HDP erklärten
hingegen, am Tag der Arbeit sei eine Kundgebung nur auf diesem Platz sinnvoll.
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