n-tv, 03.05.2015

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Parlamentswahlen in der Türkei

Kurden gefährden Erdogans Traum

Von Issio Ehrich

In der Türkei geschieht, was lange undenkbar erschien. Die kurdische HD-Partei begeistert zusehends Wähler, die nicht zur kurdischen Minderheit gehören. Ein Desaster für Präsident Erdogan und seine AKP.

Der türkische Präsident hat einen Traum: Die AK-Partei gewinnt die Parlamentswahlen am 7. Juni nicht nur, sie erringt eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Damit ändert sie die Verfassung und macht ihn, Recep Tayyip Erdogan, zum mächtigsten Präsidenten, den die Türkische Republik je gesehen hat.

Erdogans Traum erscheint allerdings immer fantastischer. Und das vor allem aus einem Grund: dem Aufstieg der Kurden-Partei HDP. Die Halkların Demokratik Partisi hat das Potenzial, die politische Landschaft der Türkei grundsätzlich zu verändern. Sie könnte nicht nur den weiteren Aufstieg Erdogans stoppen, sie könnte zugleich die Übermacht der seit mehr als einem Jahrzehnt allein herrschenden AKP brechen.

Bei den Präsidentschaftswahlen 2011 holte die HDP 6 Prozent. Besser schnitt sie auch bei den jüngsten Kommunalwahlen nicht ab. Immer wieder scheiterte sie an der beispiellos hohen Sperrklausel von 10 Prozent - einem Relikt aus Zeiten der Militärregierung der 1980er-Jahre. Diese Hürde wirkte stets so unüberwindbar, dass die HDP in den vergangenen Jahren unabhängige Kandidaten unterstützte, statt als Partei anzutreten. Dank dieser Trickserei hatte sie zumindest ein paar Vertreter ihrer Interessen in der Großen Nationalversammlung, dem türkischen Parlament. Doch dieses Mal scheint alles anders zu kommen.

Nicht mehr nur eine Partei für Kurden

Die HDP profitiert vom erfolgreichen Friedensprozess zwischen der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und der türkischen Regierung. Es fällt ihr leichter, sich nicht mehr nur als politische Vertretung der kurdischen Minderheit im Land zu präsentieren. Sie profiliert sich immer erfolgreicher als Partei für alle Türken. Spätestens seit den Gezi-Protesten zählen auch türkische Sozialisten und Liberale zu ihrer Zielgruppe. Hinzu kommen Kurden, die früher die AKP gewählt haben. All das zeigt sich in den Umfragewerten: Im Januar lag die HDP bei einigen Instituten bereits bei rund 8 Prozent. Derzeit geht die Mehrheit der Meinungsforscher von mehr als 9 Prozent aus. Bei einer Erhebung des Instituts Gezici Araştırma kommt die HDP sogar auf 11 Prozent. Die Führung der Partei hat mittlerweile das Selbstbewusstsein, auf die Unterstützung unabhängiger Kandidaten zu verzichten und auf Köpfe aus den eigenen Reihen zu setzen. Überwindet die HDP die Zehn-Prozent-Hürde, würde sie prompt mehr als 50 der 550 Sitze im Parlament bekommen.

Für Erdogan hieße es dann: ausgeträumt. Für eine Zwei-Drittel-Mehrheit, mit der das Parlament die Türkei per direkter Verfassungsänderung in eine Präsidialdemokratie verwandeln könnte, braucht die AKP 367 Sitze. Mit 330 Sitzen, einer Drei-Fünftel-Mehrheit, könnte die AKP zumindest noch ein Referendum für die Verfassungsänderung veranlassen. Das Volk entschiede über die Machtbefugnisse des Präsidenten. Schon jetzt gelten diese beiden Ergebnisse aber als unwahrscheinlich. Die AKP kommt in Umfragen derzeit auf Ergebnisse zwischen 38 und 45 Prozent. Überwindet die HDP die Zehn-Prozent-Hürde, wäre für die AKP eine Verfassungsänderung ohne Koalitionspartner praktisch unmöglich. Tatsächlich muss Erdogan angesichts der jüngsten Erhebungen gar um die absolute Mehrheit, die die AKP 2011 noch erringen konnte, bangen.

Aus dem Drei-Parteien-Parlament der Türkei - neben der AKP schaffen es auch immer wieder die kemalistische CHP und die rechtsextreme MHP in die Große Nationalversammlung - würde ein echtes Vier-Parteien-Parlament. Und die so lange übermächtige AKP könnte nicht mehr diktieren. Sie müsste um Mehrheiten für ihre Projekte kämpfen.