Süddeutsche Zeitung, 09.05.2015

Rückschritt in die Dunkelheit

Der Mord an der Studentin Özgecan Aslan hat das Land erschüttert, überall haben Menschen gegen Gewalt an Frauen protestiert. Doch die Macho-Kultur hält sich hartnäckig - gerade auch in der Politik.
Von Mike Szymanski

Mehmet Aslan ist ein schmaler Mann. Seine Frau Songül Aslan sitzt neben ihm und starrt auf ihre Finger. Sie sitzen zusammen auf einem großen Sofa. Aber zwischen Mehmet Aslan und seiner Frau ist Leere.

Die Aslans sitzen in ihrem Haus in Mersin, weit im Süden Anatoliens. Rechts und links stehen Fotos von einer jungen, hübschen Frau, 19 Jahre alt, langes, schwarzes Haar: Özgecan Aslan, ihre Tochter. Sie studierte und wollte Psychologin werden. Mehmet Aslan sagt: "Özgecan hat immer so viele Fragen gehabt. Sie wollte hinter die Dinge blicken." Er sagt, natürlich denke jeder Vater, sein Kind sei etwas ganz Besonderes. "Aber sie war es wirklich." Einmal habe sie zu ihm gesagt: "Ich liebe die Menschen mit meiner Seele." Mit der Seele lieben. Er schaut seine Frau an.

Es war der 11. Februar, ein Mittwochabend, als Mehmet und Songül Aslan das letzte Mal auf die Tochter warteten. Sie wollte von ihrer Uni in der Nähe der Stadt Adana nach Hause kommen. Özgecan hatte sich nach dem Unterricht noch mit einer Freundin in einem Einkaufszentrum in der Stadt Tarsus getroffen. Das liegt auf dem Weg. Danach stieg sie in einen Minibus, eine Art Sammeltaxi. Am Steuer saß Ahmet A., 26 Jahre alt. Er sagte, er habe schon Feierabend, werde sie aber noch schnell zu einem Kollegen bringen, der weiter nach Mersin fährt. Der Weg dorthin ist weit. Eine Stunde brauchte der Bus, Ahmet A. fährt dann doch selber weiter. Fast nur Landstraße, rechts und links wechseln sich Felder und Fabrikhallen ab.
Sie schnitten der Frau die Hände ab, mit denen sie es gewagt hatte, sich zu wehren

Und dann fiel er über Özgecan Aslan her, wollte sie vergewaltigen. Sie wehrte sich, mit ihren Händen, sie kratzte ihn, sie sprühte Tränengas. Aber das machte ihn offenbar nur noch wütender. Er trat sie mehrere Male, schlug mit einer Eisenstange auf sie ein, bis sie ohnmächtig wurde, dann rief er einen Freund an, er solle kommen und für fünf türkische Lira Benzin mitbringen.

Auch sein Vater kam. Sie waren jetzt zu dritt. Sie schnitten der Frau die Hände ab, mit denen sie es gewagt hatte, sich zu wehren. Dann verbrannten sie Özgecan Aslan. Ihr Leichnam lag im Flussbett des Cin Deresi.

Özgecans Vater sitzt auf dem Sofa und sagt: "Gott gibt niemandem eine Last, die er nicht tragen kann." Das Haus, in dem die Eltern leben, ist rosa, es steht am Rande des Stadtzentrums von Mersin. Am Rathaus hat die Stadtverwaltung ein großes Plakat aufgehängt. "Unsere Özgecan", steht da. "Wir werden es nicht vergessen. Und wir werden nicht zulassen, dass es vergessen wird." In fast allen großen Städten in der Türkei sind nach dem Tod der Studentin Menschen auf die Straße gegangen. Sie haben Özgecan Aslans Bild hochgehalten. Bei Twitter erzählen immer mehr Frauen, wie auch sie Opfer von Gewalt wurden. Man muss nur #oezgecan und #sendeanlat eingeben. Erzähl auch Du! Es ist, als hätte sich eine Schleuse geöffnet.

In der Türkei sterben fast täglich Frauen. Weil ihre Ehemänner, ihre Väter und Brüder auf sie losgehen. 2014 registrierte ein unabhängiges Institut 281 Mordfälle. 214 waren es im Jahr davor. Und dieses Jahr entwickelt sich auch schon nicht gut. Türkische Frauenrechtsorganisationen lassen auf ihren Internetseiten Zählwerke laufen.

Mitten in Istanbul, im Stadtteil Beyoğlu, Hausnummer 34. Im vierten Stock hat Ipek Bozkurt ihr kleines Büro. Sie ist 37 Jahre alt, Rechtsanwältin. Schon lange zählt sie die toten Frauen in diesem Land. Sie organisiert Demos, sie hinterfragt die Gesetze. Sie will die türkische Gesellschaft verändern. Sie muss nur den Fernseher anmachen, dann sieht sie, wie weit dieses Land noch davon entfernt ist, Frauen zu behandeln wie Männer.
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Sie sind fassungslos und wütend: Demonstranten halten am 21. Februar in Ankara Plakate von Özgecan Aslan hoch. (Foto: Adem Altan/AFP)

Im September durfte Sefer Ç. im Fernsehen auftreten, in einer Kuppelshow im Frühstücksprogramm. Der Mann war fünf Mal verheiratet. Vor laufender Kamera erzählte er, dass er es nicht immer leicht im Leben gehabt habe. Dann sagte er: Zwei seiner Frauen habe er ermordet. In einer anderen Kuppelshow trat ein Mann auf, der sich damit brüstete, seine Frau mit 43 Messerstichen umgebracht zu haben.

Ipek Bozkurt, die Anwältin, fragt: "Geht's noch?" Dass Frauenmörder nach ein paar Jahren Haft wieder frei kommen, kennt sie von ihrer Arbeit bei Gericht. Aber dass die Frauenmörder auch noch im Fernsehen eine Bühne bekommen, das macht sie fassungslos. Sie hätte nie gedacht, dass sich die Lage für Frauen in der Türkei wieder so verschlechtern würde. Sie waren in diesem Land schon mal weiter. Die Regierungszeit der islamisch-konservativen AKP hatte in Sachen Frauenrechte vielversprechend begonnen. Unter der AKP wurde 2005 erstmals der Versuch unternommen, sogenannte "Ehrenmorde" zu erfassen. Vergewaltigung in der Ehe wurde unter Strafe gestellt. Und Täter konnten sich nicht mehr freikaufen, indem sie ihre Opfer heirateten. Paragrafen wurden verschärft, Frauenhäuser eröffnet. Die Rolle der Frau wurde gestärkt, die Männer vom Sockel gestoßen - auf dem Papier zumindest.

Und jetzt? Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan und die Regierung legen Youtube und Twitter lahm, wenn ihnen irgendwas nicht gefällt, was dort verbreitet wird. Die Fernsehaufsicht fühlt sich aber nicht befugt, verurteilte Frauenmörder aus dem Frühstücksprogramm zu verbannen. Natürlich haben Organisationen protestiert. Aber die nimmt sich Erdoğan dann gerne persönlich vor. Die Frauenbewegung habe "nichts mit unserem Glauben und unserer Kultur zu schaffen", sagte er. Deren Anliegen findet er unislamisch. Gleichstellung, sagte Erdoğan, sei im Übrigen unnatürlich.

Politik ist in der Türkei Männersache. Man muss nur im Fernsehen auf die Nachrichten umschalten, dann dominiert Erdoğan das Programm. Wenn Frauen auftauchen, bringen sie ihm entweder etwas oder sind schmückendes Beiwerk. Die Männerclique um Erdoğan prägt die türkische Gesellschaft. Sein Gesundheitsminister Mehmet Müezzinoğlu ließ wissen, Mutter zu werden sei Karriere genug für Frauen. Regierungsvize Bülent Arınç störte sich vor einem Jahr an Frauen, die in der Öffentlichkeit laut lachen. Geht es nach den AKP-Männern, dann sollen sie drei Kinder bekommen. Abtreibung? Geburt per Kaiserschnitt? Nicht in der Türkei.

Nach dem Tod von Özgecan Aslan sagte Erdoğan, Frauen seien von Gott dem Manne zum Schutz anbefohlen. Ipek Bozkurt sagt: "All diese Kommentare, all diese Sprüche, die bleiben doch nicht ohne Folgen." Seit Jahren steigt die Zahl der erfassten Morde an Frauen. Zahlreich auch die Gewalttaten: blau geschlagene Augen, gebrochene Rippen. "Die Männer stehen im Supermarkt oder sonst wo und denken, sie haben das Recht, ihre Frauen zu schlagen, nur weil die vielleicht ein anderes Leben führen wollen." Die Sprüche der Männer an der Spitze des Staates zerstören die Arbeit von Jahrzehnten, sagt Ipek Bozkurt.

Sie und ihre Mitstreiter haben einen Google-Alert eingerichtet, eine permanente Suchabfrage im Internet. Sobald eine Frau stirbt und die Medien darüber berichten, bekommen sie eine Nachricht. So erfuhren sie auch von Özgecan Aslan.

Ipek Bozkurt weiß noch, wie sie über den Fall diskutierten und entschieden, groß einzusteigen. Sie wussten, dass er brutal und eindeutig genug war, um etwas in diesem Land zu verändern. Özgecan Aslan war nicht spät abends allein unterwegs, sie trug auch keinen Minirock. All dies reicht sonst schon aus, um den Frauen eine Mitschuld zu geben.

Türkei Türkei
Özgecan Aslans Eltern, Mehmet und Songül Aslan, in ihrem Haus in Mersin. Er habe noch nicht die Kraft zu verzeihen, sagt der Vater. (Foto: Mike Szymanski )

Ipek Bozkurt und ihre Kolleginnen verbreiteten den Fall in den sozialen Netzwerken. Plötzlich wurde über Gewalt an Frauen in aller Öffentlichkeit diskutiert, Dinge kamen zur Sprache, die sonst niemand hören wollte. Wie kann es sein, dass Richter immer noch von jeder Möglichkeit Gebrauch machen, das Strafmaß zu reduzieren, wenn ein Mann vor ihnen auf der Anklagebank sitzt? Wie kann es sein, dass fast jeder dritte türkische Mann in Umfragen angibt, es sei gelegentlich mal notwendig, seine Frau zu schlagen? Ipek Bozkurt hat sich gewünscht, dass Özgecans Familie in die Kampagne einsteigt. Ein Vater, der die türkische Männergesellschaft anklagt, das hätte der Bewegung Kraft gegeben. Doch dazu kam es nicht.

Es ist dunkel geworden in Mersin. Özgecan Aslans Tante reicht türkischen Honig und Wasser. Özgecans Schwester, 21 Jahre alt, betritt das Wohnzimmer und setzt sich zu ihrer Mutter. Sie nimmt die Hand der Mutter in ihre. Sie schweigen.

Der trauernde Vater wollte Özgecans Tod nicht zur nationalen Sache machen

Natürlich weiß der Vater, wie der Tod seiner Tochter das Land aufwühlt. Aber er will nicht, dass mit seinem Leid Politik gemacht wird. "Das ist keine nationale Angelegenheit", sagt er. Nach Özgecans Tod kamen die ersten Rufe, die Todesstrafe wieder einzuführen, andere wollten die Täter kastrieren. Mehmet Aslan trauerte. Die Regierung in Ankara reagierte schnell - und mitfühlend. Erdoğan schickte seine Töchter als Tröster nach Mersin. Premierminister Ahmet Davutoğlu seine Frau. Für seine Milde soll Özgecans Vater einen Preis von der türkischen Religionsbehörde Diyanet bekommen. Er wollte den Tod seiner Tochter nicht zur nationalen Angelegenheit machen, aber die Politik hat es getan.

Der Vater erzählt, dass er seinen Kindern immer alle Freiheiten gegeben hat. "Es wächst eine ganz neue Generation heran", sagt er. Auch Özgecan sei rebellisch gewesen. Ihm habe das gefallen. Und er ist sich sicher, dass sich irgendwann die türkische Gesellschaft nach diesen Frauen richten muss. Ihnen stehe in der Türkei "ein Sonnenaufgang" bevor.

Kein böses Wort, kein Kommentar zur Machogesellschaft. Er sagt nur: "Natürlich muss sich etwas ändern." Dann kramt er in seinen Notizen. Er hat viel gelesen in den vergangenen Wochen, getröstet hat ihn die Religion. Er ist Alevit, Anhänger einer islamischen Religionsgemeinschaft. Gott habe die Kraft, nur in einer Person die Welt neu zu erschaffen, liest er vor. Er hofft, dass der Tod von Özgecan doch noch irgendeinen Sinn hat, dass er die Welt vielleicht ein klein wenig besser macht. Kann er verzeihen? Mehmet Aslan sagt: "Ich habe noch nicht die Kraft dazu."

An der Hochschule, an der Özgecan Aslan studiert hat, gab es kurz nach ihrem Tod eine Demonstration. Ums Mikrofon rissen sich die Männer. Wer den Campus besucht, trifft draußen vor den Hörsälen unter einem kleinen Zelt drei Frauen im Alter von Özgecan Aslan, Fatma, Pelin und Ezgi. Sie studieren Literatur und wollen Lehrerinnen werden. Sie haben einen Frauenrechteklub gegründet. Auf einem ihrer Schilder steht: "Die Hausarbeit sollen die Marsmenschen machen!" Schritt Nummer eins: Selber den Mund aufmachen. Wer sie fragt, was sich ändern soll in der Türkei, bekommt zu hören: "Wir wollen, dass man uns wertschätzt."

Im Einkaufszentrum von Tarsus, wo Özgecan sich kurz vor der Tat noch mit ihrer Freundin getroffen hatte, hat der Sportverein eine Ausstellung mit Karikaturen organisiert, die weltweit nach dem Mord erschienen sind. Ein Kondolenzbuch liegt aus. "Wenn das Männlichkeit sein soll, erklären wir, dass wir keine Männer sind", hat einer hineingeschrieben, der sich Mehmet nennt.

Staatspräsident Erdoğan hat versprochen, dass es von jetzt an keine Milde mehr mit den Tätern geben soll. Die Gesellschaft müsse umdenken.

Seit dem Tod von Özgecan Aslan wurden mehr als 40 Frauen von ihren Männern umgebracht. Der Tote-Frauen-Zähler steht jetzt bei 102 für 2015.

URL: http://www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-rueckschritt-in-die-dunkelheit-1.2471392