Neues Deutschland, 08.05.2015

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"Wir werden gerade abgeschoben"

Familie Mohamad aus Syrien lebt in Hamburg und soll nach Zypern abgeschoben werden – obwohl die Zustände dort fragwürdig sind, und die Mutter psychisch krank ist. von Anne-Sophie Balzer

In der Nacht zum 10. Februar 2015 fällt das Thermometer in Hamburg-Bergedorf leicht unter null. Familie Mohamad schläft, wie Menschen um drei Uhr nachts eben schlafen, als Polizisten an ihre Zimmertür hämmern. "Es ging alles furchtbar schnell", erinnert sich der Vater der Familie, Selaheddin: "Wir sollten so schnell wie möglich unsere Koffer packen. ,Jeder nur einen‘, haben sie geschrien."

Zeit, ihre Rechtsanwältin anzurufen oder sonst irgendjemandem Bescheid zu sagen, hatten sie nicht. Nur Amad, einer der zwei Söhne, schrieb aus dem Polizeiauto eine SMS an einen Fußballfreund: "Wir werden gerade abgeschoben und uns wahrscheinlich nicht wiedersehen."

Die syrisch-kurdische Familie wurde aus ihrer Flüchtlingsunterkunft im Hamburger Osten zum Flughafen gefahren. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hatte ihren Asylantrag abgelehnt, eine Klage gegen die drohende Abschiebung war vom Verwaltungsgericht Hamburg abgewiesen worden.

Die Mohamads sollten dorthin zurück, wo sie bereits 1998 als Flüchtlinge anerkannt wurden: nach Zypern. Doch auf der Mittelmeerinsel gibt es weder Arbeit noch finanzielle Unterstützung. Eine einzige medizinische Einrichtung behandelt Flüchtlinge, sofern sie selbst dafür bezahlen. Menschenrechtsorganisationen fordern seit Langem einen Abschiebestopp.

Selaheddin war mit 17 das erste Mal im Gefängnis

Aus der Abschiebung der Familie wurde nichts, vorerst. Gut drei Monate nach dem Hämmern an der Tür lebt die Familie noch in denselben zwei Zimmern wie damals. Ein Wohnzimmer mit einer Couch, einem kleinen Tisch, einem Kühlschrank und Vorhängen vor dem Fenster. Im Schlafzimmer stehen drei Stockbetten.

Als die fünfköpfige Familie im Februar im Flieger nach Lárnaka saß, begann Selaheddin panisch zu schreien. Seine Frau Fairoz wurde ohnmächtig. Die Piloten weigerten sich, die Maschine zu starten. Fairoz wurde ins Krankenhaus gebracht und blieb in stationärer Behandlung. "Eine Abschiebung nach Zypern ist aus gesundheitlichen Gründen kontraproduktiv und humanmedizinisch nicht zu vertreten", steht in dem Entlassungsbericht des Hamburger Asklepios-Westklinikums. Die Ärzte diagnostizieren eine posttraumatische Belastungsstörung.

Der Ausländerbehörde liegen mehrere Gutachten zum kritischen Zustand der 40 Jahre alten Mutter vor. Von ihrem Plan, die Mohamads abzuschieben, ist sie deshalb aber nicht abgewichen. Er wurde nur noch nicht umgesetzt, weil Fußballfreunde der Söhne Dalsouz und Amad eine Petition gestartet und mehrere Einrichtungen sich für sie eingesetzt haben. Nun wird der Eingabeausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft entscheiden. Er tagt jeden Montag, aber der Aktenordner der Mohamads ist nur einer von vielen.

"Wir können den ganzen Tag nichts tun, außer zu warten, das macht einen verrückt", sagt Selaheddin Mohamad. Dabei müht er sich ein Lächeln ab. "Wir wollen eine Chance und hier in Deutschland neu anfangen." Er wäre mit seiner Familie weder nach Zypern noch nach Deutschland gekommen, wenn sie in Syrien hätten bleiben können. "Fast meine ganze Familie ist noch in Syrien, wieso sollten wir irgendwo anders hingehen, wenn es nicht um Leben und Tod ginge?"

Selaheddin war 17 Jahre alt, als er das erste Mal ins Gefängnis musste. Er lebte in der syrischen Kleinstadt Afrin, unweit der türkischen Grenze, fast ausschließlich von Kurden bewohnt. Ein junger Mann mit linken politischen Idealen, der Arabisch studierte. Als er das in Syrien jahrzehntelang verbotene kurdische Neujahrsfest Newroz feierte, wurde er festgenommen. 28 Tage Haft.

In den Jahren danach wurde er immer wieder eingesperrt und wie alle Gefangenen in Syrien gefoltert. An einem Reifen aufgehängt schlug man ihn mit Stöcken, Kabeln und Gewehrkolben, malträtierte seinen Körper mit Elektroschocks. All das berichtet Selaheddin nicht persönlich. Es steht in einem Bericht, den seine Rechtsanwältin verfasst hat und der an die Hamburgische Bürgerschaft adressiert ist. Er soll einen Abschiebestopp aus humanitären Gründen erwirken.

Anfang der 1990er Jahre gelang es der jungen Familie, über die Türkei und mit Booten in die Republik Zypern zu fliehen. Der zweite Sohn kommt zur Welt und die Familie wird als Flüchtlinge anerkannt. Selaheddin gründet ein Baugeschäft mit mehreren Mitarbeitern. Aber er hat großes Heimweh. Weil Anwälte ihm versichern, er werde nicht mehr gesucht, kehrt er zunächst allein zurück in seine Heimat. Noch am Flughafen in Aleppo wird er verhaftet. 40 Tage lang wissen seine Frau und seine Kinder nicht, wo er ist. Fairoz kann nicht mehr schlafen, hat Herzrasen und Panikanfälle.

Nach drei Jahren kommt Selaheddin frei. Doch in Syrien herrscht mittlerweile Krieg, der "Islamische Staat" gewinnt an Macht. Wieder reist Familie Mohamad, nun mit drei Kindern, über die Türkei und mit Booten nach Zypern. Dann bricht in der Republik die Finanzkrise aus. Selaheddin verliert seine Arbeit, niemand will jetzt mehr Häuser bauen lassen. Nach und nach verkauft die Familie alles, was sie besitzt. Als sie ihre Wohnung verlieren, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als zu betteln und in verlassenen Häusern zu schlafen. Für die Reise nach Deutschland verkauft Fairoz den wenigen Schmuck, den sie noch besitzt. Im April 2014 beantragt Familie Mohamad in Hamburg Asyl – vergeblich.
Asyl unter dem Dach der Kirche

"Überfallartige Abschiebungen" in der Nacht würden in der Stadt zur gängigen Praxis gehören, sagt Herman Hardt vom Hamburger Flüchtlingsrat. Der Senat gehe seit Jahren äußerst rigide vor. "Das war unter der CDU-Regierung so und hat sich unter der SPD auch nicht merklich gewandelt", sagt er. Hardt schätzt, dass nur Bayern noch rigoroser mit Asylbewerbern umgehe.

Die Hamburger Anwältin Petra Dervishaj ist spezialisiert auf Ausländer- und Asylrecht und wundert sich nicht, dass Familie Mohamad gegen den Rat der Ärzte abgeschoben werden soll. Vergleichbare Fälle gäbe es einige. Sie sagt: "In der Regel ist das Ergebnis der flugmedizinischen Untersuchung, dass auch kranke Flüchtlinge in ärztlicher Begleitung reisefähig sind. In einzelnen Fällen wird noch ein Medikamentenvorrat mit auf den Weg gegeben." Ob die Betroffenen nach ihrer Abschiebung medizinische oder psychologische Betreuung erhielten, werde häufig nicht überprüft.

Wie hart Hamburg bei Abschiebungen im Vergleich mit anderen Bundesländern wirklich vorgeht, lässt sich schwer belegen. Ein Blick auf die Kirchenasylstatistik ist jedoch hilfreich. Das Asyl unter dem Dach der Kirche ist oft die letzte Chance für Flüchtlinge und kann als Indikator für die Härte der Behörden gelten. Im Ländervergleich besetzt Hamburg den dritten Platz hinter Bayern und Hessen. In dem Stadtstaat hatten im Jahr 2014 insgesamt 106 Menschen Schutz in kirchlichen Einrichtungen gesucht, unter ihnen viele Dublin-III-Fälle wie Familie Mohamad, die in einem anderen EU-Land bereits anerkannte Flüchtlinge sind. Für ein so kleines Bundesland eine hohe Zahl. Deutschlandweit stieg die Zahl der Kirchenasyle 2014 im Vergleich zum Vorjahr um 500 Prozent, eine Reaktion auf deutlich mehr Abschiebungen als in den Jahren zuvor.

Wie rigoros Verwaltungsgericht und Ausländerbehörde in Hamburg vorgehen, zeigt sich daran, dass sie Familie Mohamad überhaupt nach Zypern zurückschicken wollen. Ein Land, in das es 2014 nur 53 Übernahmeersuche gegeben hat, so heißen Abschiebeentscheide in der Amtssprache. Von den 53 Ersuchen wurde in nur zwei Fällen Menschen zurück auf die Mittelmeerinsel gebracht (Drucksache 18/3850, Seite 24 und 36).

Nach Griechenland, dessen Situation die Anwältin der Familie Mohamad, Cornelia Ganten-Lange, mit Zypern vergleicht, gibt es seit 2009 ein vom Bundesverfassungsgericht erlassenes Abschiebeverbot, nicht so nach Zypern. Doch die Verwaltungsgerichte der Bundesländer halten sich offenbar an die Empfehlungen von Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen, in dieses Land zurzeit keine Flüchtlinge zu überstellen – mit Ausnahme von Hamburg und eines Verwaltungsgerichts in Niedersachsen.

Cansu Özdemir, Fraktionsvorsitzende der Linken in Hamburg, kennt Familie Mohamad aus der kurdischen Community. "Der Senat muss beantworten, wieso die Zustände auf Zypern nicht erneut überprüft werden und wieso er die Kritik des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nicht ernst nimmt. In Zypern gibt es reichlich Menschenrechtsverstöße, ein sicheres Leben ist dort nicht möglich", erklärt die junge Politikerin am Telefon.

Eingabenausschuss als letzte rechtliche Möglichkeit

Doch vom Senat kommt keine Antwort. Der zuständige Innensenator Michael Neumann verweist lediglich auf den Status der Familie als anerkannte Flüchtlinge in der Republik Zypern und auf den Eingabeausschuss. "Dem laufenden Verfahren möchte ich nicht vorgreifen", sagt er.

Auch Aydan Özoğuz, Bundesbeauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration, möchte sich nicht zu einzelnen Fällen äußern. Es sei gut, dass man sich an den Eingabenausschuss gewandt habe, lässt ihr Arbeitsstab ausrichten. Doch der Gang vor den Ausschuss wird erst nötig, weil andere Rechtswege ausgeschöpft sind. Özoğuz und ihre Behörde sind die entscheidende Schaltstelle, die daran etwas ändern könnte, indem sie festlegt, dass nicht mehr nach Zypern abgeschoben werden darf.

Selaheddin Mohamad versucht vor seiner Frau und den Kindern positiv zu bleiben. Doch nachts kann er nicht mehr schlafen. Dann holen ihn die Foltergefängnisse und die Sorgen um seine Familie ein. Er sitzt stundenlang im Wohnzimmer und starrt die Wände an.

Fairoz hat schon zwei Mal versucht, sich das Leben zu nehmen. Einmal hat Selaheddin sie an den Bahngleisen gefunden. "Ich habe sie gefragt: Was machst du hier? Sie wusste es nicht. Sie sagte, wir würden ohne sie besser leben."

Was, wenn der Eingabenausschuss gegen ein dauerhaftes Bleiberecht entscheidet? "Wir wollen auf keinen Fall schwarz hier bleiben, dafür ist die Situation meiner Frau viel zu schwierig", sagt Selaheddin. Zurück nach Zypern wolle er aber auf keinen Fall, dann lieber wieder in die Heimat. Er sagt: "Lieber sterbe ich in meinem Heimatland, als in Zypern auf der Straße zu leben."