FAZ, 11.05.2015 http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/naher-osten/assad-gesteht-erstmals-oeffentlich-rueckschlaege-ein-13582637.html Bürgerkrieg Fortschritte und Rückschritte in Syrien Präsident Assad gerät immer stärker in die Defensive – zum ersten Mal gesteht er in der Öffentlichkeit Rückschläge ein. Islamistische Milizen rücken derweil weiter vor. von Markus Bickel, Kairo Zum ersten Mal seit dem Beginn des bewaffneten Konflikts in Syrien vor vier Jahren hat Machthaber Baschar al Assad in dieser Woche „Rückschläge“ eingestanden – und damit auf die schleichenden Verschiebungen der Machtverhältnisse zugunsten seiner Gegner reagiert. Freilich relativierte er seine Aussage gleich wieder: Es liege in der Natur des Krieges, dass es „Fortschritte und Rückschläge, Siege und Niederlagen, Hochs und Tiefs“ gebe, sagte Assad in seiner Rede am Mittwoch zum Märtyrertag in Damaskus. Markus Bickel Autor:
Markus Bickel, Korrespondent für die arabischen Länder mit Sitz in Kairo.
Folgen: „Krieg besteht nicht nur aus einer, sondern aus einer Serie von Schlachten.“ Zugleich äußerte er sich zuversichtlich, dass es der Armee gelingen werde, „die im Krankenhaus von Dschisr al Schughur eingeschlossenen Helden“ zu befreien. Einheiten von Assads Armee sind in den vergangenen Tagen näher an die Kleinstadt im Nordwesten des Landes herangerückt, die die Islamistenmiliz Ahrar al Scham gemeinsam mit dem syrischen Ableger Al Qaidas, der Nusra-Front, Ende April erobert hatte. Mit der Schlacht um Dschisr al Schughur kehrt der Krieg an seine Ursprünge zurück, der Ort steht wie kein anderer für den Wandel der Revolution vom friedlichen Aufstand zum Krieg: Hier kam es erstmals zu koordinierten bewaffneten Aktionen der Opposition gegen Sicherheitskräfte, nachdem Polizisten im Juni 2011 in einen Trauerzug gefeuert hatten. Daraufhin rückten Armeeeinheiten ein; nach einer Woche Kämpfe waren 120 Menschen tot. Nur wenige Wochen später verkündeten Armeedeserteure die Gründung der Freien Syrischen Armee (FSA) mit dem Ziel, friedliche Demonstrationen zu schützen, nicht, um offensiv gegen staatliche Einheiten vorzugehen. Daraus freilich wurde nichts: Die militärische Konfrontation eskalierte in den Monaten danach derart, dass im Frühjahr 2012 bereits mehr als 10.000 Opfer zu beklagen waren. John Kerry: Assad habe „alle Legitimität verloren“ Dass es den islamistischen Milizen Ende April gelang, Assads Soldaten aus Dschisr al Schughur in die Provinz Latakia, die Herkunftsregion Assads, zurückzudrängen, hat aber auch deshalb symbolische Bedeutung, weil hier bereits 1980 der Vater des herrschenden Machthabers, Hafiz al Assad, ein Massaker an mehr als 150 Regimegegnern verüben ließ. Auch in anderen Gebieten Syriens haben sich die Gewichte zuungunsten Assads verschoben. Zum ersten Mal seit August 2013 sind seine Gegner auch in Latakia wieder auf dem Vormarsch. In der Nähe von Qardaha, dem Familiensitz der Assads im Akrad-Gebirge, finden seit einer Woche schwere Kämpfe statt. Die Strategie der Oppositionsmilizen, das Regime an möglichst vielen Fronten in Gefechte zu verwickeln, scheint aufzugehen: Zwei Grenzübergänge im Süden des Landes sind in den vergangenen Wochen gefallen. Hinzu kommen die Geländegewinne in der Provinz Idlib an der Grenze zur Türkei, für die Assad im April die türkische Regierung verantwortlich machte. Von der Hand zu weisen ist der türkische Einfluss nicht: Seit dem Treffen von Präsident Recep Tayyip Erdogan mit dem saudischen König Salman im März in Riad ziehen die lange zerstrittenen sunnitischen Regionalmächte wieder an einem Strang. Ihr Ziel dürfte sein, die Position der Opposition bei den am Dienstag in Genf begonnenen Gesprächen zu stärken. Schien es vor wenigen Monaten noch so, als ob Assads Strategie aufginge, sich dem Westen als Partner im Kampf gegen die Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS) anzudienen, gewinnen inzwischen wieder die islamistischen Gegner des IS an Boden. Auch Amerikas Außenminister John Kerry stellte vor den neuen Verhandlungen in Genf klar, dass Assad „alle Legitimität verloren“ habe. Begeistert über die neue Allianz Ankaras mit Riad ist man in Washington indes nicht. Zwar bestätigten amerikanische Regierungsvertreter dieser Tage, dass das seit Monaten geplante Militärtraining von Oppositionskämpfern durch Spezialkräfte in der Türkei bereits begonnen habe. Doch seit der Ankündigung Präsident Obamas im vergangenen Sommer, 500 Millionen Dollar für die Ausbildung von 5000 gemäßigten Kämpfern zur Verfügung zu stellen, ist viel Zeit verstrichen. Von 3750 syrischen Freiwilligen, die sich bei den entsprechenden amerikanischen Stellen gemeldet hätten, seien nur 400 akzeptiert worden, berichteten amerikanische Medien, weil das Einsickern extremistischer Elemente durch ein aufwendiges Screening-Verfahren verhindert werden sollte. Hinzu kommen inhaltliche Differenzen: Anders als Amerika haben Saudi-Arabien und die Türkei nicht in erster Linie den IS im Visier, sondern Assad. IS drängt an vielen Fronten nach vorne Außerdem haben sie kein Verständnis für die Politik der Vereinten Nationen. Anders als 2014, als iranische Vertreter von den Gesprächen in Genf ausgeschlossen waren, hat der UN-Syrien-Sondergesandte, Staffan de Mistura, diesmal Diplomaten aus Teheran eingeladen. Vertreter der wichtigsten Oppositionsmilizen, Ahrar al Scham und Nusra-Front, sind nicht vertreten, obwohl sie deutlich mehr Einfluss ausüben als die Nationale Koalition von Oppositionsführer Khaled Khoja. Auch die Freie Syrische Armee ist von islamistischen Milizen an den Rand gedrängt worden; ebenso die friedlichen Aktivisten der ersten Stunde. Die jüngsten Niederlagen
von Assads Armee könnten deshalb dazu führen, dass die Forderung nach
Flugverbotszonen wieder an Gewicht gewinnt, die die Opposition bereits
kurz nach Beginn der Revolution auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Anders
als damals kontrollieren die Assad-Gegner im Norden und Süden des Landes
inzwischen zusammenhängende Territorien. Dschisr al Schughur böte sich
für eine solche Schutzzone an.
|