welt.de, 11.05.2015

"Uns vor Bagger stellen können wir gut"

In Istanbul soll ein Heim für armenische Kinder abgerissen werden. Es sei die Fortsetzung des Völkermords mit anderen Mitteln, sagen Aktivisten. Und versuchen die Zerstörung des Hauses zu verhindern. Von Deniz Yücel , Tuzla

Das Kamp Armen hat den verwunschenen Charme verlassener Anwesen. Den Innenhof überragen große Feigenbäume, im einstigen Brunnen hat sich Regenwasser gesammelt, zerbrochene Fensterscheiben, heraushängende Türen. Ein Ort, an dem die Zeit vorbeigezogen ist, während sich drumherum alles veränderte. Erst kamen Ferienhäuser, dann die Werften, die dafür sorgten, dass heute jeder türkische Umweltingenieur Tuzla kennt: als krasses Beispiel einer rücksichtslosen Industriepolitik.

Wäre alles nach Plan gegangen, wäre von der einstigen Ferienanlage für armenische Kinder nichts mehr übrig. Anfang Mai rückten Bagger an, um im Auftrag des Eigentümers das komplette Anwesen niederzureißen. Ein Nachbar informiert einen armenischen Freund, der teilt das auf Facebook, ruft ein paar Bekannte an, und einige Stunden später, ein ehemaliges Wohngebäude ist bereits abgerissen, eilen die ersten Leute herbei, um den Abriss zu stoppen.

Junge Aktivisten vom Verein Nor Zartonk sind dabei, ein paar Lokalpolitiker von der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP und Funktionäre der prokurdisch-linken Partei der Völker (HDP), darunter Garo Paylan, Rektor einer armenischen Schule und HDP-Kandidat bei der Parlamentswahl im Juni. Sie stellen sich vor den Bagger, die Polizei hält sich zurück, schließlich zieht der Bauunternehmer seine Leute ab. Der Abriss ist verhindert. Vorläufig.

"Uns vor Bagger stellen können wir gut", sagt Bahar Batman-Akkus lachend und auf den Abgeordneten Sirri Sürrya Önder anspielend, der im Frühjahr 2013 zu Beginn der Proteste im Gezi-Park maßgeblich dazu beigetragen hatte, den dortigen Abriss zu verhindern. Batman-Akkus ist Co-Vorsitzende der HDP in Tuzla. Sie ist 40 Jahre alt und arbeitet als Verkaufsleiterin in der Futterindustrie. Hellgrüne Augen, blonde Haare und stets eine Zigarette in der Hand. Sie ist Türkin. "Aber ich kann als Sozialistin der staatlichen Leugnung nicht tatenlos zusehen", sagt sie.

Zusammen mit ein paar Dutzend Leuten, die meist deutlich jünger sind als sie, hat sie seither Tag und Nacht hier verbracht. Sie habe sich gerade ihren Jahresurlaub genommen, um den Wahlkampf für die HDP zu machen. Ist das hier auch Wahlkampf (Link: http://www.welt.de/140746001) ? "Nein, hier geht es um etwas Wichtigeres: zu verhindern, dass der Völkermord an den Armeniern mit anderen Mitteln fortgesetzt wird." Ungefähr das – "Der Völkermord dauert an" – steht auf einem großen Transparent, das die Besetzer über den Innenhof gehisst haben.

Dabei stammt Kamp Armen gar nicht aus dieser Zeit. Erst 1962 hat die armenisch-protestantische Kirche, die kleinste der drei armenischen Kirchen, der heute nur 3.000 der verbliebenen 60.000 türkischen Armenier angehören, das 9.000 Quadratmeter große Grundstück gekauft, um hier eine Ferienanlage für Kinder zu errichten. Doch auch dieser Konflikt ist eine Spätfolge des Völkermords.

1923, kurz nach der Gründung der Republik, wurde per Gesetz aller "verwaiste" Besitz von Armeniern konfisziert. Da für die nichtmuslimischen Gemeinden Mieteinnahmen die einzige Einnahmequelle bildeten, investierten sie danach in Immobilien. Hinzu kamen Besitztürmer, die ihnen Gemeindemitglieder vererbten, weil sie keine Nachkommen hatten oder diese ermordet worden waren. In den siebziger Jahren folgte eine zweite Enteignungswelle, als aller Besitz, der nicht bereits 1936 auf die nichtmuslimischen Gemeinden eingetragen war, rückwirkend für illegal erklärt wurde. 1.400 Immobilien wurden danach beschlagnahmt – Kirchen, Schulen und andere armenische, griechische, aramäische und jüdische Einrichtungen sowie zahlreiche Wohn- und Geschäftsräume.

Ein verlorener Prozess

Auch Kamp Armen wurde dem früheren Eigentümer übertragen, obwohl die protestantische Gemeinde im Grundbuch eingetragen war. Im Jahr 2002, noch unter dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit, wurde eine erste Rückgaberegelung für Gemeinschaftsvermögen beschlossen – die Rückgabe von Privatbesitz war nie ein Thema –, der unter der AKP weitere Schritte folgten. Im Folgenden wurden einige hundert Rückgabeanträge bewilligt. Aber eben nicht alle. Die armenisch-protestantische Gemeinde unterlag im Prozess um Kamp Armen.

Wenn die hartnäckige Leugnung des Völkermords, den der türkische Staat und ein großer Teil der Gesellschaft Ende April zu dessen Jahrestag erneut in Frage stellten, einen rationalen Kern hat, dann ist es das: Wer Völkermord sagt, muss zahlen (Link: http://www.welt.de/139981810) . Auch deshalb hat der im Jahr 2007 ermordete Publizist Hrant Dink (Link: http://www.welt.de/9630710) nie auf diesen juristischen Terminus bestanden.

Mit Kamp Armen ist seine Geschichte eng verwoben. Anfang der sechziger Jahre war er einer der ersten Kinder, die im Sommer hierher kamen – und selber mit anpacken mussten. Die Besetzer haben an einer Fensterfront Farbkopien vergilbter Fotografien aufgehängt: Auf einem Bild adrett gekleidete Mädchen mit verstohlen Blicken, auf einem anderen Jungs mit nackten Oberkörpern, die per Menschenkette Sand vom benachbarten Strand tragen.

"Wir haben hier nicht nur gelernt und eine schöne Zeit verbracht, wir haben das hier mit unseren Händen aufgebaut", sagt Hrant Dinks Witwe Rakel. An diesem Wochenende ist auch sie raus nach Kamp Armen gefahren. Die Besetzer haben spontan ein kleines Fest organisiert. Der Schauspieler Murat Akdag erzählt in einer Sprechtheateraufführung die Geschichte des Ortes, am Abend spielt eine Band. Eröffnet wird das Fest aber mit einer Rede von Rakel Dink. "Der Teufel kommt, um zu stehlen, zu töten und zu zerstören", zitiert sie ein Jesuswort. Die seelische Belastung, an den Ort zurückzukehren, wo sie noch im Kindesalter ihren späteren Ehemann kennenlernte, ist unübersehbar. "Ich weiß, Sie erwarten keinen Dank", ruft sie mit zittriger Stimme. "Trotzdem Danke. Diese Geschichte darf nicht so enden."

Hrant Dink ist hier auch auf andere Weise präsent. In Gestalt der jungen Aktivisten von Nor Zartonk nämlich, die die Besetzung maßgeblich koordinieren und ein Eingreifen der Behörden fordern. Nor Zartonk bedeutet auf Armenisch "Neues Erwachen"; der Verein entstand aus einer Mailingliste, die junge Leute nach dem Mord an Dink gebildet hatten. Der Verein gibt eine Zeitschrift heraus, unterhält ein Internetradio und organisiert Sprachkurse. Und seine Aktivisten heben sich nicht durch ihr Alter von den etablierten Einrichtungen ab. Sie sind politischer. Und kämpferischer.

"Wir müssen aber auch keine Rücksicht" nehmen, sagt Norayr Olgar. Dass der 23-jährige, der einen Job bei der Hrant-Dink-Stiftung angefangen hat, nichts mit den altehrwürdigen Institutionen gemein hat, sieht man auch so: lange Haare, wilder Bart, das Hemd halb über der Hose hängend. "Manche Leute aus den Institutionen unterstützen uns, andere werfen uns vor, dass wir den Gemeinden schaden. Aber ich will nicht länger kuschen."

Der heutige Eigentümer von Kamp Armen sei dazu bereit, sich entschädigen zu lassen, erzählt Olgar weiter. "Aber das ist nicht unser Gesprächspartner. Der Staat hat dieses Gelände geraubt, er soll dafür sorgen, dass es der Gemeinde zurückgegeben wird", sagt er mit grimmiger Entschlossenheit. "Ich fände es schön, wenn das Gelände restauriert und wieder zu einer Einrichtung für Kinder würde – "gleich welcher Herkunft". "Das hier ist ein Mini-Gezi", sagt er. Das ist ihm wichtig, wie es ihm wichtig ist, dass junge Leute aus türkisch-muslimischen Familien die Besetzung unterstützen.

Der Student Tolga zum Beispiel. "Kamp Armen ist typisch für die Ausplünderungspolitik der AKP", meint er. "Ob beim Abriss von Armenviertel oder im Gezi-Park – die Herrschenden nehmen keine Rücksicht auf die Natur, die Geschichte oder das Eigentum anderer Leute. Aber das hier ist keine Ausplünderung unter vielen, es geht um den Völkermord."

Sind sie deshalb hier? "Natürlich", springt seine Freundin Reyhan ein. "Als Kurdin habe ich Empathie, weil auch die Kurden und die Aleviten Opfer der Vernichtungspolitik waren. Aber viele Ausführende des Völkermords an den Armeniern waren Kurden. Die Kurden haben diese Geschichte verdrängt wie der Rest der türkischen Gesellschaft auch. Vielleicht sind sie nur heute ein bisschen weiter, sich dieser Geschichte zu stellen."