FAZ, 17.05.2015

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Konferenz für Wiederaufbau

Kobane in Trümmern

Der „Islamische Staat“ ist vertrieben, aber nach fünf Monaten Schlacht gleicht die Kurden-Stadt Kobane einer großen Ruine. Nun wird der Wiederaufbau organisiert. Die Türkei zögert bei einer zentralen Frage.

von Rainer Hermann

Die Regierung des kurdischen Kantons Kobane in Syrien bereitet in Zusammenarbeit mit westlichen Institutionen eine Wiederaufbaukonferenz für die Stadt vor, die während der Belagerung durch den „Islamischen Staat“ (IS) weitgehend zerstört worden ist. Ein Termin im Juli sei im Gespräch, der Ort könnte Brüssel sein, sagte der Gesundheitsminister von Kobane, Nassan Ahmad, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Ahmad will im Europäischen Parlament, auf dessen Einladung er sich in Europa aufhält, den Vorschlag einer internationalen Wiederaufbaukonferenz erörtern. Die Finanzierung des Wiederaufbaus solle durch die Anti-IS-Koalition, internationale Organisationen und die Zivilgesellschaft erfolgen, sagte Ahmad. Zudem hofft er, dass europäische Politiker die türkische Regierung davon überzeugen können, einen humanitären Korridor zu öffnen, um Materialien für den Wiederaufbau nach Kobane bringen zu können sowie Kranken und Alten die Ausreise in die Türkei zu erleichtern.

Die kurdischen Volksverteidigungseinheiten haben mit Unterstützung westlicher Luftschläge den „Islamischen Staat“ am 26. Januar 2015 aus Kobane vertrieben. In den folgenden zwei Monaten befreiten sie 410 der 451 Dörfer um Kobane, die überwiegend von Kurden besiedelt sind. So sind die Einheiten des IS im Osten, Süden und Westen bis auf 40 Kilometer von Kobane zurückgedrängt worden. Zur Verteidigung der Stadt haben die Volksverteidigungseinheiten mehrere Ringe um Kobane mit Gräben angelegt, die drei Meter tief und vier Meter breit sind. Der IS greift weiter die nahe gelegenen Dörfer mit Raketen an, nicht aber Kobane.

Bei der Schlacht um Kobane, die fünf Monate gedauert hat, ist die Stadt sehr stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Ahmad zufolge ist die Infrastruktur völlig verstört worden, bei den öffentlichen Einrichtungen sind lediglich 20 Prozent intakt, und die Hälfte der Wohnungen ist unbewohnbar. Vor dem Krieg hatten in der Stadt 100.000 Einwohner gelebt; heute leben in der Stadt und den umliegenden Dörfern nur noch 70.000 Menschen. Zerstört sind alle vier Krankenhäuser.

Ein Selbstmordattentäter des IS hatte sich im Zentralkrankenhaus in die Luft gesprengt. Auch von den 13 Gesundheitszentren in den Dörfern ist nicht viel übrig geblieben. Ahmad gibt den Bedarf beim Wiederaufbau mit 800 Krankenhausbetten an. Zudem wurden 90 Prozent der Schulen bei den Kämpfen zerstört. Der Unterricht findet heute in Zelten statt. Seit Anfang 2014 ist Kobane von der Versorgung mit Trinkwasser und mit Elektrizität abgeschnitten. Damals brachte der IS die Gewinnung von Trinkwasser aus dem Euphrat unter seine Kontrolle. Kobane bohrt Brackwasservorkommen in 30 Meter Tiefe an.

Schlecht ist laut Ahmad ebenfalls die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln. Da die meisten Dörfer im Umland von Kobane erst im März befreit worden sind, konnte für dieses Jahr keine Saat mehr ausgesät werden. Nur unregelmäßig würden über die Grenze zur Türkei Lastwagen mit Weizen durchgelassen, sagte Ahmad.

Humanitärer Korridor würde viele Probleme lösen

In Kobane sind Ingenieure aus Diyarbakir und Fachleute aus dem kurdischen Südosten der Türkei tätig, um Soforthilfen zu leisten und dringend notwendige Reparaturen durchzuführen. Internationale Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenze und Medico International senden Medikamente und medizinische Geräte, die an der Grenze vom türkischen Roten Halbmond umgeladen und nach Kobane gebracht werden. Die Zivilgesellschaft und kurdische Stadtverwaltungen der Türkei senden Nahrungsmittel.

Die Einrichtung eines offenen humanitären Korridors würde 90 Prozent der Probleme Kobanes lösen, sagte Ahmad. Die Türkei zögere aber. Denn sie fürchte, mit der Schaffung eines solchen Korridors die drei selbstverwalteten kurdischen Kantone im Norden Syriens, die unter dem Begriff Rojava zusammengefasst werden, anzuerkennen. Nach wie vor gibt es keine direkten Beziehungen zwischen der türkischen Regierung in Ankara und Rojava. Der Kanton Kobane unterhält lediglich mit den Stadtverwaltungen jenseits der Grenze Kontakte zur Lösung grenzüberschreitender Probleme.

Ahmad bezeichnete den IS als die stärkste Kraft in Syrien, stärker als die Nusra-Front und das Regime in Damaskus. Der IS dringe in jedes Vakuum ein, das sich ihm biete. Er hoffe, dass es neue, moderate Kräfte geben werde, bevor in Damaskus das Regime erst politisch stürze und dann militärisch besiegt werde. „Ein schneller Fall ist aber eine Gefahr“, sagte Ahmad.