welt.de, 21.05.2015

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Syrien und Irak

Der unheimliche Machtgewinn des Islamischen Staats

Die USA erklärten den Vormarsch der Terrormiliz für gestoppt. Doch jetzt haben die Islamisten die antike Stadt Palmyra besetzt und kontrollieren halb Syrien. Warum der IS stark ist wie lange nicht. Von Alfred Hackensberger , Tanger
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Foto: Infografik Die Welt

Es war eine kleine Nachricht mit großer Wirkung: "Wir haben die Kontrolle über Palmyra übernommen", gab die Terrormiliz Islamischer Staat (IS (Link: http://www.welt.de/themen/islamischer-staat/) ) auf Twitter bekannt. Auch nach tagelangen Kämpfen konnte sie von der syrischen Armee trotz Luftunterstützung nicht mehr aufgehalten werden.

Die Regierungstruppen hätten sich von allen Positionen in der Stadt und ihrer Umgebung zurückgezogen, erklärten die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (Sohr) und andere Aktivisten am Donnerstag. Experten befürchten nun eine Zerstörung der in Palmyra befindlichen antiken Stätten, die zum Weltkulturerbe zählen.

Sohr teilte mit, der IS habe in Palmyra mindestens 17 Menschen ermordet, unter ihnen syrische Sicherheitskräfte und Bürger, die die Regierung des Landes unterstützten. Einige der Opfer seien geköpft worden. Vor Einnahme der Stadt hätten die Terroristen in der Gegend um Palmyra mindestens 49 Menschen umgebracht.

US-Präsident Barack Obamas Sprecher Josh Earnest bezeichnete die Eroberung von Palmyra durch den IS als "Rückschlag" für die internationale Anti-Terror-Koalition. Obama stimme aber nicht Republikanern zu, die als Konsequenz die Entsendung von US-Bodentruppen forderten. Dem "Atlantic Magazine" sagte Obama: "Ich glaube nicht, dass wir verlieren". Er räumte aber zugleich ein, dass der Kampf gegen den Islamischen Staat "mehrere Jahre" dauern werde.

Die legendäre Antikstadt Palmyra, die auch unter dem Namen Tadmur bekannt ist, ist strategisch wichtig. Von hier aus führen Verbindungsstraßen direkt nach Homs und in die syrische Hauptstadt Damaskus. Im Nordosten von Palmyra liegt Deir Essor auf dem Weg zur irakischen Grenze. Von dort kann man weiter nördlich nach Hasaka gelangen.

Mit der Einnahme Palmyras (Link: http://www.welt.de/141239473) soll die Terrorgruppe nun 50 Prozent Syriens, umgerechnet 95.000 Quadratkilometer, unter Kontrolle haben, wie Sohr berichtete. Viele Gebiete davon sind jedoch unbewohnte Wüste. Der Verlust von Palmyra bedeutet im Kampf gegen die radikal-sunnitische Organisation in der Region einen neuen Rückschlag. Am vergangenen Wochenende hatte sie im Irak mit einem Überraschungsfeldzug Ramadi eingenommen, die Hauptstadt der Provinz Anbar. Sie war seit letzten Sommer umkämpft.

"Wenn nur fünf IS-Mitglieder in die Ruinenstadt gehen, werden sie alles zerstören", sagte Mamun Abdul-Karim, der Verantwortliche Syriens für Museen und Antiquitäten. Er hatte fest daran geglaubt, dass die internationale Gemeinschaft beim Schutz Palmyras nicht versagen werde. "Aber wir konnten keinerlei Reaktion sehen", sagte er desillusioniert. "Selbst wenn der IS jetzt in der Stadt ist, könnte man doch wenigstens den Nachschub bombardieren."

Bisher gibt es aber keine Anzeichen dafür, dass Kampfflugzeuge der von den USA angeführten Koalition Stellungen der IS-Extremisten angreifen. Für Abdul-Karim bleibt es unverständlich, dass nur zugesehen werde, wenn ein derartig bedeutender Schatz der Weltkulturgeschichte in Gefahr sei.

Die Regierungstruppen von Präsident Baschar al-Assad (Link: http://www.welt.de/themen/baschar-al-assad/) allein konnten die IS-Kämpfer nicht aufhalten. Nach über vier Jahren Bürgerkrieg sind die Truppen demoralisiert und durch hohe Verluste dezimiert. Viele der Soldaten würden gar nicht kämpfen. Sie werden zum Wehrdienst gezwungen und hatten noch nie einen Tag Heimaturlaub. Ohne Unterstützung schiitischer Milizen ist die Regierungsarmee keine schlagkräftige Gruppe.

Die Milizen kommen aus dem Irak, Afghanistan oder im Falle der Hisbollah aus dem Libanon. Sie sind vom Iran finanziert, trainiert und bewaffnet. Iranische Offiziere der Revolutionsgarden führen den Befehl. Wie schwach die syrische Armee – weitgehend allein auf sich gestellt – ist, hat sich bereits in der Provinz Idlib gezeigt. Dort konnte ein islamistisches Bündnis, angeführt von der al-Qaidanahen Nusra-Front, die Provinzhauptstadt und umliegende Gebiete einnehmen.

Aktivisten zufolge hat der IS auch den letzten noch von den syrischen Streitkräften kontrollierten Grenzposten an der Grenze zum Irak eingenommen. "Der IS hat den Grenzposten Al-Tanaf erobert, nachdem sich die syrischen Truppen zurückgezogen haben", erklärte Sohr am Donnerstag. Die syrische Regierung habe nun "keine Kontrolle mehr über ihre Grenze zum Irak".

Fall von Ramadi ist symptomatisch

Experten für den Nahen Osten, aber auch Politiker in Washington und in Europa stellen bereits die Strategie von US-Präsident Obama gegen die IS-Terroristen infrage. Seit Sommer vergangenen Jahres wird die Extremistengruppe in Syrien und im Irak aus der Luft angegriffen. Zu Jahresbeginn wurden einige Erfolge erzielt.

Die Dschihadisten mussten schwere Niederlagen einstecken. Zuerst in Kobani, der syrischen Grenzstadt zur Türkei. Später dann im Irak, als die Sindschar-Region und danach im April Tikrit befreit wurden. Das Pentagon erklärte, man habe den Vormarsch der Terrorgruppe endgültig gestoppt. Nun scheint der Erfolg infrage gestellt.

Es ist vor allen Dingen der Fall der irakischen Stadt Ramadi, der Kopfzerbrechen macht. Der Irak ist das Herzland der IS-Terrormiliz (Link: http://www.welt.de/themen/islamischer-staat/) . Von hier aus hat sie sich nach Syrien ausgeweitet. Und die Provinz Anbar ist eine ihrer Hauptbasen. Die irakische Armee, die von den USA trainiert und bewaffnet wurde, sollte die Extremisten in dem Land, in dem ihre Wurzeln liegen, besiegen.

Nur: Die irakische Armee ist eine einzige Enttäuschung. Beim Vormarsch der IS-Kämpfer im Juni letzten Jahres waren die Soldaten Hals über Kopf davongelaufen. Bisher konnten sie ihre Reputation nicht wiederherstellen. In Ramadi zeigte sich erneut, wie unzuverlässig die Armee ist. Die Soldaten an der Front hatten nicht ausreichend Munition zur Verfügung. Truppenverstärkung wurde angefordert. Die kam nicht rechtzeitig, oder es waren zu wenige Männer.

Der gravierendste Fehler in Ramadi war die fehlende Vorbereitung. Die Dschihadisten bahnten sich mit einer Reihe von koordinierten Selbstmordattentaten den Weg. Sie beluden Lastkraftwagen mit über einer Tonne Sprengstoff und rasten damit in eine Befestigungsanlage des Gegners.

Diese Taktik ist seit Langem bekannt, aber in Ramadi hatte man dem nichts entgegenzusetzen. Und am Donnerstag überrannten IS-Kämpfer auch irakische Verteidigungsstellungen östlich der Stadt.

Kurz nach dem Fall der Stadt entschloss sich das Pentagon, 1000 Panzerabwehrraketen an Bagdad zu liefern. Mit diesen von der Schulter aus abgeschossenen Raketen kann man die Lkw der Selbstmordattentäter rechtzeitig neutralisieren. Die Peschmerga der autonomen Kurdenregion (KRG) haben von Deutschland längst Panzerabwehrraketen geliefert bekommen. In der KRG gibt es deshalb kaum mehr diese Form von Selbstmordattentaten.

Nun sollen es im Irak (Link: http://www.welt.de/themen/irak-politik/) wieder einmal die schiitischen Milizen richten. Das sind eine ganze Reihe von paramilitärische Einheiten, die außerhalb des Staats agieren. Sie werden ebenfalls vom Iran trainiert und mit Waffen versorgt. Sie folgen dem Oberbefehl von Kassem Suleimani, dem führenden Offizier der iranischen Al-Kuds-Eliteeinheit der Revolutionsgarden. In Tikrit und anderen Frontabschnitten im Irak ist er vor Ort. Der irakische Premierminister Haidar al-Abadi hat schiitische Milizen nach Ramadi beordert. Probleme sind dabei vorprogrammiert. Die Stadt ist vorwiegend von Sunniten bewohnt, und die schiitischen Milizen sind für Plünderungen und Racheaktionen berüchtigt.