welt.de, 25.05.2015 http://www.welt.de/politik/ausland/article141437250/Iran-gibt-USA-Schuld-an-Einnahme-Ramadis-durch-IS.html Erdogan regiert die Türkei wie ein Pascha Der türkische Präsident hat seine Partei AKP fest im Griff. Dabei ersetzt er die einst militärische Autokratie im Land durch eine religiöse. Bekommt er dafür noch einmal die Mehrheit? Von Deniz Yücel Ein Präsident wird beerdigt, und keiner geht hin. Kein Vertreter der Regierung kam vorige Woche, um dem im Alter von 97 Jahren verstorbenen Kenan Evren die letzte Ehre zu erweisen, keiner seiner Nachfolger, keine Abgesandten der vier Parteien des Parlaments, keine ausländischen Gäste. Der General, der den Putsch vom 12. September 1980 angeführt, das Land in eine Folterkammer verwandelt und bis 1989 als Staatspräsident amtiert hatte, trat eine einsame letzte Reise an. Seine fast durchweg von kritischen Nachrufen begleitete Beisetzung zeigte einmal mehr: Die Herrschaft der Generäle ist vorbei. Nicht allein, dass ihre Dominanz, die bis weit in die 90er-Jahre gereicht hatte, gebrochen ist. Vor allem ist die große Mehrheit der Türkinnen und Türken nicht länger bereit, den Militärs und Bürokraten jene Rolle zuzubilligen, die sie sich selbst stets angemaßt hatten: als mal fürsorgliche, mal strenge Erziehungsberechtigte der Gesellschaft, deren Selbstverständnis Nevzat Tandogan, in den 40er-Jahren Gouverneur von Ankara, einst so wunderbar formuliert hatte: "Was habt ihr mit Nationalismus oder Kommunismus zu schaffen? Falls der Nationalismus gebraucht wird, kümmern wir uns darum; falls der Kommunismus (Link: http://www.welt.de/themen/kommunismus/) gebraucht wird, werden immer noch wir ihn einführen. Eure Aufgabe ist es, eure Felder zu bestellen und als Soldaten zu dienen, wenn wir euch rufen!" Ein besseres Land Man kann darüber streiten, welchen Anteil Recep Tayyip Erdogan (Link: http://www.welt.de/themen/recep-tayyip-erdogan/) und seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) an der – im wahrsten Sinne des Wortes – Zivilisierung des Staates hatte und ob nicht Dynamiken in der Gesellschaft wie im Rest der Welt entscheidender waren. Ebenso kann man darüber streiten, ob es Erdogans Verdienst ist, eine friedliche Aussöhnung mit der kurdischen Arbeiterpartei (PKK) eingeleitet zu haben oder jede andere Regierung nicht ebenfalls an diesen Punkt gelangt wäre. So oder so: Die Türkei der Gegenwart ist ein besseres Land als zu Zeiten Kenan Evrens. Doch der Fluch des Putsches liegt noch heute über ihr. Er zeigt sich zum Beispiel in der weltweit einmaligen Hürde von zehn Prozent für jede neue Partei. Er zeigt sich in der unkontrollierten Verfügung über die Ware Arbeitskraft. Und er zeigt sich in der Islamisierung von Staat und Gesellschaft. Schließlich waren die Militärs – im Einvernehmen mit den USA übrigens – seinerzeit der Ansicht, dass dieses Land den Islam brauchen würde, um alle kommunistischen Bestrebungen zu erledigen. Sie waren es, die den sunnitischen Religionsunterricht als Pflichtfach in der Verfassung verankerten. Dass sie sich später als Sachwalter des Laizismus aufspielten, folgte anderen Umständen, aber derselben Logik. Die AKP war einmal ein vielfältiger Organismus Im Unterschied zur alten kemalistischen Elite versteht sich Erdogan als Teil und Tribun der "anatolischen Hornochsen". Und für ihn ist die Religion nicht bloß ein Mittel zum Zweck; er ist von einer religiösen Mission beseelt. Doch so sehr die AKP auch an vorrepublikanische Traditionen anknüpft, hat sie den größeren Teil des kemalistischen Erbes angenommen. Unter ihrer Führung haben sich nicht nur Staat und Gesellschaft weiter islamisiert; zugleich hat sich die AKP verstaatlicht. Von dem Bündnis, das die AKP 2002 noch darstellte – im Kern der modernisierungsfreudige Teil der islamistischen Milli-Görüs-Bewegung, um den sich weitere Milieus sammelten: die wirtschaftsliberalen Teile der alten Mitte-Rechts-Parteien Anap und DYP, die Gülen-Gemeinde (Link: http://www.welt.de/themen/fethullah-guelen/) , selbst linke, linksliberale und armenische Intellektuelle – ist kaum noch etwas übrig. Nicht nur die Gülen-Leute sind weg; auch alle übrigen moderaten Führungsfiguren: der frühere Staatspräsident Abdullah Gül, der als moralisch integer geltende alte Kämpe Bülent Arinc oder Ali Babacan, der unter anderem als Außenminister sämtlichen AKP-Kabinetten angehört hatte und sich jüngst in einem Interview über die mangelhafte Rechtsstaatlichkeit beschwerte. Das Profil nur am Gegner schärfen Die AKP von heute ist kaum mehr als Erdogans Privateigentum. Dass er es geschafft hat, seine Partei derart unter seine Kontrolle zu bringen, liegt am Parteienrecht (noch so eine Hinterlassenschaft des Putsches), das jeden Parteichef zu einem König macht. Und es liegt am System von Begünstigungen und ökonomischen Abhängigkeiten, das er erschaffen hat und schließlich an seiner Politik der Polarisierung. Seit 2007 hat Erdogan alle seine Wahlkämpfe stets gegen bestimmte Gegner geführt und darüber seine Anhänger mobilisiert – gegen das Militär, die Justiz, die Gezi-Bewegung, die Gülen-Leute. Dass er sich nun einen heftigen Wortwechsel mit den Medien der Dogan-Gruppe liefert, zeigt womöglich, dass er sich einen neuen Gegner ausgesucht hat: das urbane, liberale Bürgertum, von dem er sich ohnehin keine Unterstützung mehr erhoffen kann. Bislang aber ist der Hauptgegner die kurdische Bewegung (Link: http://www.welt.de/138650651) . Diese Kampagne wird nicht nur verbal mit einer religiös aufgeladenen Kampagne geführt, sondern womöglich auch mit anderen Mitteln: Rund 60 Übergriffe auf Einrichtungen und Mitglieder der Demokratiepartei der Völker (HDP) wurden in den vergangenen Wochen aus der türkischen Provinz gemeldet. Würde Erdogan für den Sieg töten? Sollten diese Attacken vermutlich dazu dienen, Aktivisten in der Provinz einzuschüchtern, waren die Paketbomben, die am Montag dieser Woche in den Parteibüros der südtürkischen Metropolen Adana und Mersin explodierten, von anderer Qualität. Diese Bomben sollten, so ist anzunehmen, nicht abschrecken, sondern mobilisieren, die Anhänger der kurdischen Bewegung auf die Straße treiben und Zusammenstöße mit der Polizei oder den dort ebenfalls starken türkischen Nationalisten provozieren. Für Erdogans These, dass die "Koalition der alten Türkei" – also aller seiner politischen Gegner – für diese Attacken verantwortlichen seien, spricht nichts; für die These von Selahattin Demirtas, dem Co-Vorsitzenden der HDP, dass die Regierung dahinter stecke, spricht wenigstens die Geschichte der Republik, in der sich immer wieder Kräfte innerhalb des Staates der "Strategie der Spannung" bedient haben. Diese Kräfte gibt es immer noch. Aber ein Eigenleben führen sie nicht mehr. Und dennoch: So wie die türkische
Gesellschaft sich nicht mehr von Militärs und Bürokraten bevormunden lässt,
so ist sie dem autoritären Paschastil Erdogans entwachsen. Die Frage ist
nicht, ob Erdogan ein ähnlich einsames Ende wie General Evren nehmen wird.
Die Frage ist, wann dies passieren und was er bis dahin alles zertrümmern
wird – bis zur Wahl am 7. Juni und darüber hinaus.
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