welt.de, 27.05.2015

https://www.jungewelt.de/2015/05-27/066.php

Syrien

"Ich kann die Leichen unter den Trümmern riechen"

Etwa 100.000 Menschen sind nach Kobani und in die umliegenden Dörfer zurückgekehrt. Einige Läden haben wieder geöffnet, doch von Normalität kann nicht die Rede sein. Ein Besuch vor Ort.

Von Deniz Yücel , Kobani

Vier Monate nach der Befreiung ist Kobani eine Trümmerlandschaft. Einzig in jenem Fünftel des Ortes, das der Islamische Staat nicht einnehmen konnte, sind die Häuser einigermaßen unversehrt. In den anderen Vierteln sind die meisten Gebäude zerstört, manche Straßenzüge bestehen aus nichts als Trümmern. Und niemand weiß, wie viele Leichen darunter liegen. "Ich kann sie riechen", sagt Rüstem. "Die anderen merken das nicht, weil sich der Leichengeruch mit anderen Gerüchen mischt. Aber ich kenne diesen Geruch, ich kenne ihn gut."

Mit seiner wettergegerbten Haut und der dunkelblonden Sturmhaarfrisur könnte man Rüstem für jemand aus der Gegend halten. Aber Kurdisch spricht er nicht, auch kein Türkisch oder Arabisch. Und wenn er Englisch redet, verrät ihn sein Akzent: Rüstem ist Deutscher, Schwabe, um genau zu sein. "Die haben alle Kampfnamen", erzählt er. "Mir haben sie den Kampfnamen eines gefallenen YPG-Kämpfers gegeben." Denn nun ist auch er, wie er feierlich erzählt, "ein Soldat der YPG" – ein Soldat der syrisch-kurdischen "Volksverteidigungseinheiten".

Anders als ihre Bruderorganisation, die türkisch-kurdische PKK (Link: http://www.welt.de/140589298) , gilt die YPG in Deutschland nicht als Terrororganisation. Dennoch glaubt Rüstem, dass sein Engagement in seiner Heimat strafrechtliche Folgen haben könnte, weshalb er weder seinen bürgerlichen Namen noch sein Foto veröffentlicht sehen möchte.

Nur nach Einbruch der Dunkelheit gibt es in Kobani Strom

Die YPG und die Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) bilden den militärischen Teil der kurdischen Verwaltung in Syrien (Link: http://www.welt.de/themen/syrien-krise/) . Die politische Führung hat die Partei der Demokratischen Union (PYD) inne, die nach Ausbruch des Bürgerkriegs die Kontrolle über die mehrheitlich von Kurden bewohnten Gebiete im Norden des Landes übernahm. "Rojava", Westkurdistan, wie sie sagen, ist in drei Kantone unterteilt; Kobani ist der mittlere davon. Im Norden ist die türkische Grenze, die anderen Seiten werden vom Islamischen Staat (Link: http://www.welt.de/themen/islamischer-staat/) (IS) beherrscht.

Etwa 100.000 Menschen sollen wieder in der Stadt und den umliegenden Dörfern leben. Versorgt werden können sie nur über die Türkei. Die dortigen von der prokurdischen HDP geführten Stadtverwaltungen schicken Grundnahrungsmittel, Medikamente und Treibstoff, manches kommt legal über die Grenze, anderes wird geschmuggelt. Die Kantonsverwaltung verteilt Grundnahrungsmittel, und im unversehrten Teil der Stadt, schon vor dem Krieg das Geschäftszentrum, haben wieder einige Läden geöffnet. Das Angebot ist freilich kärglich, beim Metzger etwa hängt ein einziges Stück Fleisch vor dem Schaufenster.

Kühlen könnte er es ohnehin nicht, ebenso wenig wie die Pepsi-Cola, die es hier zu kaufen gibt. Sie ist warm. Strom gibt es in Kobani (Link: http://www.welt.de/137931692) nur nach Einbruch der Dunkelheit. Dann rattern die Dieselgeneratoren, ein ohrenbetäubender Lärm. "Besser als Artilleriedonner", sagen die Leute. "Ich weiß nicht, wie wir so den Sommer überstehen sollen", sagt Siham.

Die Mittdreißigerin stammt aus der Türkei (Link: http://www.welt.de/themen/tuerkei-politik/) und hat in Westeuropa gelebt. Jetzt arbeitet sie für die Verwaltung des Kantons, trägt aber eine Pistole an der Hüfte. Wenn sich in diesen Tagen Besucher bei ihr erkundigen, was sie mitbringen könnten, lautet ihre Antwort: "Stifte, Schulhefte für die Kinder und Tagebücher für die Kämpferinnen."

Manche Güter würden die türkischen Behörden manchmal durchlassen, andere nicht, und Hilfsgüter aus dem Ausland würden grundsätzlich blockiert, erzählt Siham. Überprüfen lässt sich das kaum. Die Behörden erteilen keine Auskunft, und die muskelbepackten Männer mit Sonnenbrille, Vollbart und hautengem T-Shirt, die am Grenzübergang die uniformierten jüngeren Polizisten befehligen, wirken nicht so, als könnte man sie fragen, nach welchen Vorschriften sie arbeiten oder welcher Behörde sie angehören.

Klar ist jedenfalls, dass nur syrische Rückkehrer die Grenze passieren dürfen, und – sofern ein besonderer Grund vorliegt – auch türkische Staatsbürger. Doch die meisten türkischen Staatsbürger, die bei der Schlacht um Kobani oder danach kamen, um als zivile oder militärische Freiwillige zu helfen, haben sich wie Siham bei Nacht einschleusen lassen. Rüstem hingegen kam allein. Ohne ortskundige Helfer, am helllichten Tag. "Darüber haben die sich hier am meisten gewundert", erzählt er.

Warum es für ihn nichts Besonderes ist, bei Tag eine bewachte Grenze zu passieren, hat denselben Grund, weshalb er vertraut ist mit dem Geruch verwesender Leichen: Rüstem war fast sein ganzes Leben lang Soldat. Erst bei der Bundeswehr, dann in der Fremdenlegion. In Jugoslawien, im Kongo, Sierra Leone, offizielle Missionen und "inoffizielle ", wie er sagt.

Seit gut vier Wochen ist er nun in Kobani. An diesem Nachmittag sitzt er im Garten einer Villa, dem Sitz des "Verteidigungsministeriums". Der Garten ist schattig und gepflegt, an einem Baum hängt ein Blecheimer, der als Aschenbecher dient. In dieser Trümmerlandschaft ein fast rührender Anblick.

Und von diesen hat Kobani viele zu bieten: das achtjährige Mädchen, das mit einem Besen vor der Haustür einen aussichtslosen Kampf gegen den Staub führt. Oder die Familie, die dort, wo einst ihr Haus stand, ein Zelt aufgeschlagen hat, weil sie lieber auf ihrem eigenen Stück Land im Zelt lebt als in einem Lager der Türkei. Und die es sich nicht nehmen lässt, Besucher zum Tee einzuladen, sich aber dagegen sträubt, selber auch nur eine Zigarette anzunehmen.

Rüstems Lebensumstände sind nur wenig komfortabler. Er teilt sich im Sitz des Verteidigungsministeriums mit anderen YPG-Kämpfern ein Matratzenlager. Sein einziger Luxus: eine Rolex am Handgelenk. Gerade aber wegen dieser primitiven Umstände ist das für ihn kein Einsatz unter vielen.

Während seines Wehrdienstes findet Rüstem Gefallen am Militär und wird Zeitsoldat, dann Berufssoldat. Schließlich scheidet er als Leutnant der Reserve aus. "Ich wollte das, was ich jahrelang gelernt habe, endlich umsetzen." Seine nächste Station: die Fremdenlegion. "Die Legion war wie eine Familie. Aber mit der Zeit stellt man sich Fragen: Warum kämpfe ich? Für die Menschen oder für Politiker und Diamanten?" Er bekleidet einen mittleren Dienstrang, als er nach mehr als zehn Jahren aufhört, lässt er sich danach im europäischen Ausland nieder und beginnt einen Job in der Sicherheitsbranche.

Im Sommer vorigen Jahres dann, als die Terrormiliz Islamischer Staat im irakischen Sindschar-Gebirge einen Völkermord an den Jesiden (Link: http://www.welt.de/themen/jesiden/) beginnt, lässt ihn das Thema nicht mehr los. "Ich habe Bilder gesehen, die man sich nicht vorstellen kann. Der IS hat für mich nichts mit Religion zu tun und auch nichts mit Krieg. Das sind Kriminelle und Wahnsinnige." Rüstem will sein Wissen und seine Erfahrung in den Kampf gegen den IS einbringen. "Aber ich wollte sicher sein, dass ich dieses Mal auf der richtigen Seite stehe." Im Frühjahr kündigt er seine Arbeit, löst seine Wohnung auf und erklärt seinem Sohn, dass er eine Mission erfüllen muss.

Was ihn so sicher macht, bei den Kurden die richtige Seite gefunden zu haben? "Sie kämpfen nicht bloß für sich selbst, in der YPG sind auch Araber und Christen. Die Leute wollen Demokratie, aber mit weniger Staat und mit mehr Gesellschaft. Und wenn ich sehe, welche Rolle die Frauen hier jetzt spielen, dann weiß ich, dass ich richtig bin."

In dieser Jahreszeit sind es schon 35 Grad

Als hätte sie auf das Stichwort gewartet, erscheint Siham. Sie hat ihm etwas mitgebracht: "Revolution in Rojava", ein gerade im VSA-Verlag erschienenes Buch. "Ich dachte, das ist für den Anfang leichter als Öcalan", kommentiert Siham. "Du kannst ja danach 'Jenseits von Staat, Macht und Gewalt' lesen", sagt sie – sie meint das 600 Seiten dicke Hauptwerk des auf der Insel Imrali inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalan, in dem er sein Konzept des "Demokratischen Konföderalismus" ausgearbeitet hat. "Ja, für den Anfang", wiederholt Rüstem.

Es ist nicht so, dass er nicht politisch interessiert wäre. Er sagt Sätze wie: "Das PKK-Verbot in Deutschland war ein großer Fehler." Aber zu Hause beschäftigt er sich mit anderen Dingen. Als jemand eine Bemerkung über die Hitze macht – bereits in dieser Jahreszeit sind es mittags um die 35 Grad – antwortet er: "Ach was, ich gehe bei diesem Wetter joggen", und fügt hinzu: "Ich bin fitter als die meisten Jungen hier. Deshalb glaubt mir auch keiner, dass ich schon über 50 bin."

Doch überheblich ist Rüstem nicht. Er schwärmt von der Kreativität der Leute und erzählt, wie Mechaniker dabei seien, aus einem Dutzend zerstörter Panzer des IS einen funktionsfähigen Panzer zu basteln. Und er ist beeindruckt von der Moral der Kämpferinnen und Kämpfer: "Die sind so tapfer, die haben Haus um Haus, Zimmer für Zimmer verteidigt." Jetzt könne jeder den Dienst quittieren. "Aber das macht niemand. Dafür haben sie alle Hände voll zu tun, die 13-, 14-Jährigen, die sich zur Front durchschlagen, nach Hause zu schicken."

Dschihadisten und Assad seien Feinde

Die Front verläuft derzeit 30 bis 40 Kilometer östlich und südlich der Stadt, an beiden Abschnitten soll der IS noch sieben bis zehn Kilometer des Territoriums halten, das die PYD beansprucht. Auch an den Rändern des östlichsten Kantons Cizîrê wird noch gekämpft, auch dort soll der IS auf dem Rückzug sein.

Und dann? Ist für die Kurden danach der Krieg vorbei?

"Nein", sagt der PYD-"Verteidigungsminister" Ismet Şêx Hesen, ein gemütlich wirkender Mittfünfziger im Karohemd und mit üppigem Bauch. Vor dem Krieg arbeitete er als Kaufmann in Kobani und war mehrfach aus politischen Gründen inhaftiert. Seine Partei kämpfe nicht für ein unabhängiges Kurdistan, erläutert er und holt seinen abgegriffenen syrischen Personalausweis aus der Tasche. "Wir sind Syrer, wir werden jeden Zentimeter syrischen Bodens vom IS befreien."

Frieden könne es mit dem IS nicht geben. Und mit dem Al-Qaida-Ableger Jabhat al-Nusra (Link: http://www.welt.de/themen/al-nusra-front/) ? Dem Assad-Regime? Hesen schüttelt den Kopf. Nein, alle Dschihadisten und auch Assad seien ihre Feinde; Verbündete seien nur die Kräfte, die für Demokratie kämpfen: die Miliz der assyrischen Christen, eine kleine arabisch-sunnitische Miliz aus der Region und "Teile der Freien Syrischen Armee".

In diesem Kampf sind seine Leute wieder weitgehend auf sich gestellt. Die 200 nordirakischen Peschmerga, die nach der Öffnung eines Korridors kamen, sind mitsamt ihren Waffen abgezogen. Sie hätten ohnehin kaum eingegriffen. Und mit den Amerikanern sei man zwar in Kontakt, doch Luftangriffe würde die Koalition hier nur noch selten fliegen. "Wir brauchen schwere Waffen", sagt Hesen. Und noch etwas werde dringend benötigt: Minensuchgeräte.

Erst am Tag zuvor seien zwei Geschwister, zwölf und 15 Jahre alt, im Umland durch eine Sprengfalle des IS ums Leben gekommen. "Bitte schicken sie uns die Geräte", appelliert er an den Westen. "Den Rest machen wir selber." Die Türkei fordert er auf, die Grenzen zu öffnen. "Wir riskieren den Ausbruch von Seuchen, weil die Türkei nicht genug Räumgerät durchlässt", sagt auch Rüstem.

Haben sie für einen wie ihn überhaupt Verwendung? "Jede Hilfe ist für uns moralisch wichtig", antwortet der Minister. "Außerdem können wir von ihm lernen."

Davon ist auch Rüstem überzeugt. "Hier gibt es kaum Soldaten", sagt er, als der Minister gegangen ist. Aber hat die YPG nicht mit ihren leichten Waffen dem IS standgehalten? "Natürlich", sagt Rüstem. "Die Moral ist einwandfrei." Aber Zivilisten verhielten sich immer wie Zivilisten, selbst wenn sie Kampferfahrung hätten. "Ich habe das selber gesehen: Da schießt der IS mit Artillerie, und ein YPG-Kämpfer rasiert sich seelenruhig. Ein Soldat würde so was niemals machen."

Das will und soll Rüstem ändern. Unter seiner Aufsicht hat die YPG begonnen, ein Trainingscamp aufzubauen. "Wir wollen einen Teil der Miliz zu richtigen Soldaten ausbilden", sagt Rüstem. "Nicht mit 'Yes, Sir', 'No Sir', aber mit Disziplin. Wer sonst könnte helfen, wenn nicht Freiwillige wie ich? Deutschland macht ja nichts."