Süddeutsche Zeitung, 26.05.2015 Arbeiteraufstand in der Türkei Kampf bis aufs Blut Massenproteste machen deutlich, dass längst nicht alle vom türkischen Wirtschaftswunder profitieren. Selbst die Gewerkschaften stehen unter Beschuss. Von Mike Szymanski Ein Arbeitskampf? Sieht schon eher aus wie Arbeitskrieg. Auf einem Schild am Werkstor steht: "Wir werden eher sterben als aufgeben!" Und damit hier gleich mal klargemacht wird, wie entschlossen Renault-Arbeiter Eser Herdil und seine Kollegen sind, lassen sie die Streikenden vor den Toren der Fabrik im türkischen Bursa aufmarschieren. Ein bis eben ungeordneter Haufen wird in ein paar Minuten zu einem Heer von Arbeitern. Mit militärischer Präzision stellen sich die Fabrikarbeiter in langen Reihen auf. Ein paar Hundert sind es bestimmt. Sie legen den Kopf in den Nacken und singen die türkische Nationalhymne. Ende der Demonstration? Von wegen. Jetzt wird das Management im Gebäude ausgebuht. Und nun noch eine Laola-Welle zur Motivation der Streikkollegen in der Fabrik. Dann zerfällt die Armee wieder. Kräfte schonen. Der Streik dauert jetzt schon fast zwei Wochen. Herdil, 31, Familienvater und seit 2007 Arbeiter bei Renault, sagt: "Wir wollen nur unser Recht!" Herdil arbeitet für einen Stundenlohn von nicht einmal acht Lira - umgerechnet zweieinhalb Euro. Er kommt auf ein Gehalt von 500 Euro im Monat. Damit kommt man auch in der Türkei nicht sehr weit. Sein Land hat in den vergangenen Jahren einen beachtlichen Wirtschaftsaufschwung erlebt, von Wunder war schon die Rede. Herdil erlebte es nicht. Bei ihm ist wegen der hohen Inflation immer weniger angekommen. In Bursa, dem Zentrum der Autoindustrie mit schätzungsweise 120 000 Metallarbeitern, entlädt sich nun ausgerechnet zwei Wochen vor der Parlamentswahl der Frust über schlechte Arbeitsbedingungen und niedrige Löhne in wilden Streiks. Die hat es hier seit Ende der 90er-Jahre nicht mehr gegeben. In diesen Tagen sollen bis zu 20 000 Arbeiter ihre Arbeit niedergelegt haben - überprüfen lässt sich die Zahl kaum, denn die Arbeiter bestreiken nicht nur ihre Fabriken, sondern auch ihre Gewerkschaft Türk Metal. Der trauen sie auch nicht mehr. Verlässliche Zahlen zu bekommen ist schwierig geworden. Die Lage bei Renault: Hier geht nichts mehr. Alle drei Schichten streiken, etwa 5000 Arbeiter sollen hier die Arbeit niedergelegt haben. Für einige Tage waren aber auch Werke von Fiat, Ford und ein halbes Dutzend Zulieferer betroffen. Dies hatte in der Branche die Angst vor einem Flächenbrand ausgelöst. Etwa 800 000 Fahrzeuge produzieren türkische Autofabriken allein für den Export, ein Großteil der Fahrzeuge wird in Bursa zusammengeschraubt. Fiat und Renault bringen es zusammen allein auf eine Jahresproduktion von weit mehr als 500 000 Fahrzeugen. Wer einen guten Job
suchte, meldete sich hier bei den großen internationalen Autobauern. Die
hatten Bursa seit den Siebzigerjahren zum "türkischen Detroit"
ausgebaut. Hier wird für den Nahen Osten produziert. Wenn man die Stadt
von einem der umliegenden Berge aus betrachtet, liegen die Werkshallen
wie riesige Schuhschachteln nebeneinander. Eser Herdil hatte zunächst
bei einem Zulieferer gearbeitet. 2007 kam er - auch des Geldes wegen -
zu Renault. 1500 Lira Monatsgehalt - das bekommt man nicht überall. Jetzt
sagt er: "Ich würde meine Kinder nicht mehr hier herschicken." Über Bursa sagen die Leute: wer hier regiert, der regiert auch das Land. Die Stadt sei ein kleines Abbild der Türkei. Die allein regierende islamisch-konservative Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, AKP, hat hier große Wahlerfolge gefeiert. 52,9 Prozent schaffte sie bei der letzten Parlamentswahl. Die Macht der AKP, die 2002 an die Regierung kam, beruhte auch immer auch auf dem Versprechen, dass es den Leuten wirtschaftlich besser gehen soll. Das Pro-Kopf-Einkommen hat sich unter der AKP verdreifacht. In den richtig fetten Jahren wuchs die Wirtschaft in manchen Quartalen um mehr als zehn Prozent. Aber jetzt ist die Luft raus. Wenn man Arbeiter Herdil danach fragt, was sich verändert hat, dann sagt er: "Ich habe Schulden." Umgerechnet etwa 20 000 Euro. Das Geld reiche vorne und hinten nicht. Die englischsprachige Hürriyet Daily News veröffentlichte neulich Zahlen, wonach ein Drittel der Beschäftigten in der Türkei mit einem Mindestlohn von etwa 1000 Lira auskommen müsse. Weil die Realeinkommen mit der Wirtschaftsentwicklung nicht mithalten konnten, verarmen immer mehr Menschen in der Türkei. Seitdem das Wirtschaftswachstum von vier Prozent im Jahr 2013 auf gut drei 2014 zurückgegangen ist und die Arbeitslosigkeit wieder elf Prozent erreicht, wächst in der Gesellschaft die Sorge vor der Zukunft. In Bursa hat Neid die Streiks ausgelöst. Beim Autoteile-Zulieferer Bosch gingen im April zähe Verhandlungen mit einem satten Gehaltsplus zu Ende. Die Rede ist von 60 Prozent, offiziell bestätigt wird die Zahl nicht. Sie relativiert sich allerdings wenn man bedenkt, dass es seit 2012 keine gültige Vereinbarung mehr gab und der neue Vertrag eine Laufzeit bis 2017 hat. Die Renault-Arbeiter fragten sich, warum ihre Gewerkschaft für sie nicht solche Ergebnisse herausholte. "Sie vertreten unsere Rechte nicht", sagt Herdil. Seither kehren immer mehr Arbeiter der Gewerkschaft den Rücken und versuchen, sich neu zu organisieren. Jede Schicht habe nun ihren Verhandlungsführer, berichtet Herdil. Hilfe von der Politik ist nicht erwünscht. Orhan Saribal, Kandidat der säkularen Oppositionspartei CHP bei der Wahl am 7. Juni, muss das Streiklager verlassen. "Die Gewerkschaften müssen sich neu definieren", sagt er im Weggehen. Sie betrieben allzu oft nur noch das Geschäft der Arbeitgeber. Die haben in Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan ohnehin schon einen starken Fürsprecher gefunden. Erdoğan ist ein Freund der Bosse. An erster Stelle stehen auch für ihn die Gewinne. 2014 sollen laut Architekten- und Ingenieurskammer fast 1900 Menschen bei Arbeitsunfällen in der Türkei ums Leben gekommen sein - ein sprunghafter Anstieg im Vergleich zu früheren Jahren. Auch aus dem Grubenunglück in Soma mit mehr als 300 Toten hat das Land nicht wirklich etwas gelernt, beklagen die Minenarbeiter. Während sich die großen Oppositionsparteien alle dafür stark machen, den Mindestlohn anzuheben, will er alles lassen wie es ist. Die prokurdische HDP lockt die Vernachlässigten mit 1800 Lira Mindestlohn. Die CHP hält 1500 Lira für angemessen, will den Bürgern aber zudem ihre Kreditkartenschulden erlassen, wenn sie an die Regierung kommt. Die Nationalisten der MHP werben mit 1400 Lira. Dass solche Versprechen gut ankommen, hat auch damit zu tun, dass sich unter Erdoğan und der AKP auf der anderen Seite Verschwendungssucht breit macht. In Ankara hat sich der Präsident einen neuen Palast für etwa 400 Millionen Euro hinstellen lassen, als Schwarzbau. Dass der Leiter der Religionsbehörde mit einem 300 000 Euro teuren Dienstwagen fahren sollte, findet er auch nicht beanstandenswert. Gerade erst hat der türkische Finanzminister Mehmet Simsek die Ausgaben von 1,14 Milliarden Euro für Dienstwagen der Regierung als "Peanuts" abgetan. Eser Herdil sagt: "Wir wollen nicht viel. Ein, zwei Lira mehr pro Stunde." Aber auch in der Nacht zum Dienstag scheiterten die Gespräche. Der Streik geht weiter. URL: http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/arbeiteraufstandin-der-tuerkei-kampf-bis-aufs-blut-1.2494222
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