zeit.de, 31.05.2015

http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-05/tuerkei-wahl-recep-tayyip-erdogan/komplettansicht

Erdoğan, der Eroberer

Dem Sultan auf der Spur: Zum Jahrestag der Eroberung Konstantinopels vermengt der türkische Präsident osmanischen Ruhm und neue Träume zu einer riesigen Wahlkampffeier. von Lenz Jacobsen, Istanbul

Ein Bild hing in den vergangenen Tagen und Wochen überall in Istanbul, in U-Bahnen und Bussen, auf Plakatwänden und extra aufgespannten Transparenten. Sultan Mehmed II. sitzt hoch auf seinem weißen Pferd, auf dem Kopf den Turban und am Gürtel den reich verzierten Krummsäbel. Hinter ihm sind seine osmanischen Reiter zu sehen, vor ihm das Wasser des Bosporus und die feindlichen Schiffe. Mehmed ist ganz nach vorn gebeugt, er hat den Arm ausgestreckt und den Zeigefinger, sein ganzer Körper ist eine Weisung: Auf, zur Eroberung Konstantinopels!

Am 29. Mai 1453 nahm der Sultan die Stadt ein, es war das Ende des byzantinischen Reiches. 562 Jahre und einen Tag später hat Recep Tayyip Erdoğan, der Präsident der Türkei, sein Volk eingeladen, die Eroberungen zu feiern. Jene von damals, die von heute, und die, die da noch kommen sollen.

Zehntausende strömen nun an diesem Samstag die Straße am Ufer des Bosporus entlang. Zwei junge Männer sind auf dem Mittelstreifen auf eine Absperrung geklettert, sie halten ein Transparent hoch, darauf steht: "Sei ein Eroberer! Wir sind bereit, die Soldaten des Präsidenten zu sein." Ein paar Meter weiter verkaufen sie goldene Bänder mit dem Namen Erdoğans, die Käufer binden sich diese dann um die Stirn. Es gibt Erdoğan-Kaffeetassen, Erdoğan-T-Shirts, es gibt kleine Jungs in osmanischen Kostümen und große Jungs in Kaftan, Turban und Vollbart.

Alles kommt zusammen an diesem Maiabend in Istanbul. Der wiedererweckte Stolz auf die osmanische Vergangenheit, von dessen imperialer Größe etwas abstrahlen soll auf die heutige Türkei und ihre Machthaber. Das muslimisch-religiöse Sendungsbewusstsein genau dieser Machthaber, die ständig Koranverse zitieren auf den Bühnen und Gegner als Ungläubige verteufeln. Und als dritte, pikanteste Zutat: Der aktuelle Wahlkampfendspurt.

Am 7. Juni wählt die Türkei ein neues Parlament, es geht dabei um sehr viel und es ist sehr knapp. Erdoğan will die Verfassung ändern und seine Macht ausbauen, eventuell könnte seine Partei aber sogar die Regierungsmehrheit verlieren, erstmals seit 12 Jahren.

Erdoğan, der als Präsident zur Überparteilichkeit verpflichtet ist, darf laut Verfassung eigentlich keinen Wahlkampf machen für seine Partei AKP. Weil Erdoğan sich aber mehr für seine Macht interessiert als für Gesetze, tourt er natürlich trotzdem durchs Land, eröffnet Schulen und Flughäfen und lobt dabei die Politik der Regierung, die ja die seine ist. Diese Veranstaltungen laufen nicht unter AKP-Logo, das war's aber auch. Es sieht aus wie Wahlkampf, es hört sich an wie Wahlkampf, es ist Wahlkampf.
Kampfjets fliegen in Formation

Bei der "Eroberungsfeier" auf einem riesigen Gelände direkt am Bosporus ist jetzt schon alles voller Flaggen. Sie werden aus großen Säcken, die zu Bergen aufgeschichtet sind, kostenlos verteilt. Bald sind mehr Flaggen zu sehen als Menschen. Die Menge singt die Nationalhymne, dann beginnt die Show, oben am Himmel. Kampfjets der türkischen Armee fliegen waghalsige Manöver, mal in Formation, mal allein. An den Himmel malen sie mit ihrem Schweif rot-weiße Muster, die Farben der Nation.

Dann kommt Ahmet Davutoğlu auf die Bühne. Er ist der Ministerpräsident und eigentlich der mächtigste Mann im Land, aber die meisten nehmen ihn trotzdem nicht für voll, sehen ihn nur als Assistenten Erdoğans, der ihr "großer Meister" ist.

Davutoğlu zieht eine direkte Parallele zwischen dem glorreichen Sultan von damals und der Türkei von heute, überbrückt rhetorisch 562 Jahre. "Sie haben damals gesagt, Mehmed II. könne Konstantinopel niemals erobern, aber er hat es geschafft. Heute sagen sie, die Türkei könne niemals eine Weltmacht sein. Wir werden ihnen unsere Geschichte schon noch beibringen, seid ihr dabei?" Die Menge jubelt. "Wir wollen unsere Flagge überallhin auf der ganzen Welt bringen, seid ihr dabei?" Ja!, rufen Zehntausende im Chor. Dann der direkte Angriff auf die politischen Gegner: "Sie stellen uns Fallen, um uns am 7. Juni zu stürzen, werden wir das zulassen? Wir sind unterwegs zu neuen Eroberungen, werden wir uns von denen aufhalten lassen?"

So funktioniert der Neo-Osmanismus im Wahlkampf: Wer nicht AKP wählt, versündigt sich an den großen Sultanen, gefährdet den bis heute andauernden, großen türkischen Eroberungszug.

Will die türkische Regierung wirklich neue Gebiete erobern? Bisher reichen ihnen noch eher symbolische Zugewinne. Ein Flughafen, den sie im Schwarzen Meer gebaut haben. Die U-Bahn, die nun unter dem Bosporus fährt. Das Kampfflugzeug, an dem sie jetzt bauen. Technische Eroberungen.

Frage an einen der Erdoğan-Fans: Was haben die Eroberungen des Sultans mit der Gegenwart zu tun? "Wir werden bald das größte und tollste Land der Welt sein", sagt der Mann. Und dann, lächelnd: "Die Hälfte Deutschlands ist ja schon türkisch."

Es spricht nun noch kurz der Gouverneur Istanbuls, aber in der Menge murren schon die ersten: "Wir wollen den nicht, wir wollen den Präsidenten."

Endlich, Erdoğan auf der Bühne. Hinter ihm eine neue "Eroberungseinheit" des türkischen Militärs, die er gerade erst hat gründen lassen: Soldaten in osmanischen Uniformen, selbst überdimensionale Schnäuzer haben sie ihnen angeklebt. In seinem neu gebauten Palast empfängt Erdoğan die Staatsgäste schon seit Monaten vor einer Kulisse solch merkwürdig verkleideter Historiendarsteller.
Koran, Sultan, Soldaten

Der Präsident spricht nun ein paar Koranverse, ein Gedicht, Ehrerbietungen an den Sultan und seine Soldaten. Die wichtigste Eroberung sei natürlich die der Herzen, sagt Erdoğan. Eroberung heiße aber auch, "die Tore bis Wien zu öffnen für unsere Leute". Und weiter: "Wir müssen mächtig und stark sein, dann werden wir unseren Brüdern und Schwestern in der ganzen Welt helfen." Es ist für europäische Ohren eine martialische Rede. "Wenn Blut auf einer Flagge ist, ist es eine echte Flagge", sagt Erdoğan. "Deshalb ist die Farbe unserer Flagge rot, weil so viele dafür gestorben sind." Auch da jubeln sie, all jene, die Soldaten Erdoğans sein wollen.

Dass trotzdem viele schon während Erdoğans Rede gehen, zeigt, dass er die Latte der rhetorischen Eskalation selbst so hoch gelegt hat, dass er sie nicht mehr immer überspringen kann. Am Ende hat der Präsident 40 Minuten gesprochen, Davutoğlu nur zehn.

Neben dem Ausgang hat irgendwer riesige Stapel mit Büchern aufgebaut. Es müssen Zehntausende sein. Zwei gibt es zur Auswahl: Die Galerie der Sünden des Fetullah Gülen, jenes Predigers, der einst ein Verbündeter Erdoğans war und nun sein Gegner ist. Auf dem Buchdeckel ist er über einem Meer aus Flammen zu sehen, so wie eben ein Sünder, der in der Hölle brennt. Das andere Buch ist die Galerie der Sünden der CHP, der größten Oppositionspartei. Die Menschen klemmen sie sich stapelweise unter die Arme.

Ein paar Meter weiter steht ein LKW in der Abenddämmerung, er gehört der Stadt. Mitarbeiter stehen auf der Laderampe und verteilen aus Kisten Käsesandwiches an die Menschen, die sich davor drängen. "Sie sind einfach gut zu uns", sagt eine ältere Frau. Wer? "Na, Erdoğan und seine Leute." Dann steigt sie mit ihrem Fähnchen, den fünf Sandwiches, den zwei Büchern unterm Arm und mit den Geschichten von alten und neuen Eroberungen im Kopf in einen der vielen Busse. Die Stadt hat diese extra organisiert, um Menschen aus allen Ecken der Stadt schnell zu dieser Jubiläums- und Wahlkampffeier zu bringen und nun wieder zurück. Wie die Frau wählen wird, ist keine Frage.