welt.de, 31.05.2015

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Kurdische Frauen wollen Erdogans Macht brechen

Deniz Yücel aus Diyabakir

Die prokurdische HDP tritt mit Kandidatinnen bei der türkischen Parlamentswahl an, die sehr demokratische und pragmatische Ziele verfolgen. Die neue Generation träumt nicht mehr von Stalin, sondern von Ordnung und Entwicklung. Sogar Mülltrennung ist ein Thema

Manchmal sagt die Architektur alles: In Cizre ist der Regierungssitz ein vierstöckiger Sandsteinbau mit hohem Portal im maurischen Stil. Hier residieren die Behörden des Zentralstaates. In einer Seitenstraße dahinter: ein schäbiger, zweigeschossiger Flachbau. Es könnte sich um einen Geräteschuppen handeln, ist aber das Rathaus von Cizre. Der Staat ist alles, die Stadt nichts. So überkandidelt wie der Regierungssitz in dieser verstaubten Kleinstadt an der Grenze nach Syrien und zum Irak wirkt, so overdressed wirkt Leyla Imret mit ihrem moosgrünen Damensakko und den Pfennigabsätzen in diesem Rathaus. Sie wirkt fast exotisch in diesem Chefbüro mit seinem schweren Schreibtisch, den schwarzen Ledersesseln und der seidenen türkischen Fahne.

Leyla Imret, 27 Jahre alt, aufgewachsen in Osterholz-Scharmbeck bei Bremen, seit der Kommunalwahl 2014 Bürgermeisterin für die Demokratische Partei der Regionen (DBP). Die ist ihrerseits Teil der Demokratiepartei der Völker (HDP), die bei der Parlamentswahl am nächsten Sonntag nicht mehr mit nominell unabhängigen Kanditen antritt, sondern als Partei. Mit ihren bunten Listen und ihrem smarten Vorsitzenden Selahattin Demirtaş hat sich die HDP in den Großstädten zu einer Alternative für linke und liberale Wähler gemausert. Doch dass sie gute Aussichten hat, die Zehnprozenthürde zu nehmen und die Alleinherrschaft der AKP zu beenden, liegt an der kurdischen Bewegung. An Orten wie Cizre, wo Leyla Imret 82 Prozent der Stimmen holte.

Es sind gerade die Frauen, die für die HDP die Rathäuser lenken. Ideologisch sind sie zwar PKK-Chef Abdullah Öcalan verhaftet, doch sie bringen oft aufgrund ihrer Ausbildung und Erfahrungen im Ausland eigene Akzente in der kommunalen Politik zum Tragen. So wie Leyla Imret in Cizre. Im Krieg zwischen der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) und dem Staat war diese Gegend schwer umkämpft. Seit zwei Jahren schweigen zwar die Waffen, doch Frieden herrscht hier nicht. Im Oktober starben bei den Protesten anlässlich der Belagerung von Kobani landesweit 50 Menschen, im Dezember wurden in Cizre vier Demonstranten von der Polizei erschossen. Der älteste war 19, der jüngste zwölf Jahre alt. Was führt eine junge Frau aus Niedersachsen hierher?

"Sie müssen zuerst fragen, was mich von hier weggeführt hat", antwortet Imret und erzählt ihre Geschichte: Sie ist vier Jahre alt, als ihr Vater, ein Mitglied der PKK, bei einem Gefecht erschossen wird. Imret kommt zu einer Tante. Sie macht eine Lehre als Friseurin und arbeitet als Kinderpflegerin. "Ich habe gern in Deutschland gelebt", erzählt sie. "Trotzdem wollte ich zurück." Hat sie jemals ihrem Vater vorgeworfen, sie verlassen zu haben? "Selten, als Kind." Und hat sie überlegt, selbst zu den Waffen zu greifen? "Das wollte ich meiner Mutter nicht antun."

Man merkt ihr noch immer die Unsicherheit an. Dabei kann sie erste Erfolge vorweisen: Kürzlich feierte sie die Grundsteinlegung einer Kläranlage, damit die Abwässer der 100.000-Einwohner-Stadt nicht länger ungefiltert in den Tigris fließen. Zudem wurden neue Brunnen gebaut, bis zum nächsten Jahr soll auch im Sommer nicht bloß an zwei, drei Tagen in der Woche Wasser fließen.

Was will sie noch? "Ich möchte die historischen Denkmäler pflegen und eine Recyclinganlage bauen, damit der Müll nicht mehr irgendwo draußen abgeworfen wird." Dann auch mit Mülltrennung? "Klar", strahlt Imret. "Aber das wird schwierig. Als ich nach Cizre zurückkam, fiel mir der Schmutz auf. Die Häuser sind picobello, die Leute pflegen liebevoll ihre Gärten, aber wie es hinter ihren Mauern aussieht, ist ihnen egal."

Imret klagt über den Müll, über die Einzelhändler und Männercafés, die mit ihren Waren und Tischen die Bürgersteige blockieren würden. "Nach der Wahl wollen wir eine Kampagne starten. Und wenn es nicht anders geht, werden wir Strafzettel verteilen." Hat sie den Sinn für die Umwelt aus Deutschland mitgebracht? "Ja. Aber auch in unserem neuen Paradigma ist Ökologie wichtig, das betont die Führung immer wieder."

"Die Führung", önderlik, meint in der Terminologie der kurdischen Bewegung den inhaftierten Öcalan. Der hatte vor zehn Jahren das "neue Paradigma" verkündet: "Demokratischer Konföderalismus" statt Unabhängigkeit, Stärkung der lokalen Verwaltungen, mehr Zivilgesellschaft, weniger Staat, kulturelle Identität, Kooperativen, Umweltschutz, Frauen. Seit einigen Jahren sind alle Leitungspositionen, ob in der Guerilla oder den legalen Parteien, mit quotierten Doppelspitzen besetzt. Und obwohl das Kommunalrecht derlei nicht zulässt, treten die über 100 Bürgermeister aus der DBP/HDP mit jeweils einem "Co-Bürgermeister" auf. Auch Imret hat einen "Co-Bürgermeister", der formal ihr Stellvertreter ist. Nur ein Posten ist nicht quotiert und nicht gedoppelt: der Öcalans.

Über die Referenzen dieses "neuen Paradigmas" gibt der Buchladen Aram in Diyarbakir Auskunft. Ein großer Laden, in dessen Mitte die Bücher des hauseigenen Verlags aufgebaut sind: Memoiren von PKK-Kämpfern, Schriften von Öcalan. In einer unteren Regalreihe versteckt, finden sich Lenin und Stalin. "Danach fragen nur noch Studenten, die sich mit den Anfängen unserer Bewegung beschäftigen", erzählt der Buchhändler. Der begehrteste ausländische Autor sei der US-amerikanische Öko-Anarchist Murray Bookchin, von dem sich Öcalan zu seinem "Demokratischen Konföderalismus" inspirieren ließ. "Bookchin ist bei den Bestellungen von PKK-Gefangenen ganz oben", erzählt der Verkäufer. "Und wenn die Führung einen Autor erwähnt, sind diese Bücher sofort ausverkauft." Der letzte Hit sei "Gefährdetes Leben" von der US-Feministin Judith Butler gewesen. Vergriffen.

Die Provinz Diyarbakir hat 1,6 Millionen Einwohner, auf die elf Parlamentssitze entfallen. Die HDP rechnet sich sechs bis acht davon aus, während die restlichen an die AKP gehen dürften. Doch falls die HDP die Hürde verfehlen sollte, dürfte die AKP alle elf Mandate einstreichen. Am Ende könnte das bis zu 50 Sitze ausmachen.

Um einen davon kämpft Feleknas Uca. Die 38-Jährige wurde in Celle geboren, war von 1999 bis 2009 Europaabgeordnete der Linken und gründete eine Stiftung für Frauen- und Kinderrechte. Sie gehört der jesidischen Glaubensgemeinschaft an, die durch die Gräueltaten der Terrormiliz "Islamischer Staat" zur Bekanntheit gelangt ist. In der Türkei leben nach Flucht und Vertreibung nur noch ein paar Hundert Jesiden. Uca engagierte sich für die jesidischen Flüchtlinge im Nordirak und ging schließlich in die Türkei. Denn, so ist sie überzeugt, ohne die Unterstützung der AKP-Regierung für die Dschihadisten wäre es nicht zu dieser Tragödie gekommen.

Bei der Wahl fürchten nicht nur Anhänger der HDP Manipulationen. Dennoch zweifelt Uca nicht daran, dass es für die HDP reichen wird. Und wenn nicht? Wird dann, wie manche glauben, Kurdistan brennen? "Wir werden reinkommen", sagt sie bestimmt. Sie spricht fließend Kurdisch, Türkisch aber muss sie in einem Sprachkurs lernen. Doch gerade darum sei ihre Kandidatur wichtig: "Hier leben Menschen mit verschiedenen Muttersprachen. Es gibt Kurden, Araber, Armenier, viele andere. Wir wollen, dass alle Völker und Religionsgemeinschaften gleichberechtigt leben."

Ein ganz normaler Vormittag im Mai im HDP-Büro von Diyarbakir: Uca referiert das Wahlprogramm, man merkt es der gelernten Arzthelferin an, dass sie fast ihr gesamtes Berufsleben als Politikerin verbracht hat. Dann trifft eine Meldung aus den südtürkischen Metropolen Adana und Mersin ein: Bombenanschläge auf die HDP-Büros, nur durch Zufall keine Toten. "Sollten wir den Parkplatz räumen?", fragt jemand. "Was passiert, passiert", antwortet einer. Polizeischutz kommt nicht. "Das wäre in einer Demokratie normal", sagt Uca. "Aber diesem Staat trauen wir nicht." Später wird Parteichef Demirtaş die Regierung beschuldigen, für die Bomben verantwortlich zu sein.

Es ist der Tag des Gedenkens an die Märtyrer – "Märtyrer", şehit, nennen in der Türkei alle ihre Toten, auch die PKK. Der Tag beginnt mit einer Kundgebung vor dem ehemaligen Militärgefängnis "Nr. 5", unter der Diktatur der Achtzigerjahre eine besonders gefürchtete Folteranstalt. Der nächste Termin: ein Essen für Angehörige der "Märtyrer". Im Neonlicht eines Hochzeitssaals begrüßt Uca die Gäste und geht an jeden Tisch. Während des Essens – Fleisch, Reis und Salat – hält sie eine kurze Rede zum Kampf gegen den IS. Es folgt eine Demonstration zum "Märtyrerfriedhof". Vom Band läuft die PKK-Hymne; etwas abseits, an einem der vielen frischen Gräber, streichelt ein Mittfünfziger still den Grabstein. "Schengal", sagt er. "Mein Sohn hatte Kartografie studiert und ist nach Syrien gegangen. Er war 27."

War dies nun eine PKK-Veranstaltung? "Das waren Angehörige der Gefallenen", antwortet Uca unwirsch. Und die Öcalan-Bilder, die auch im HDP-Büro hängen, darunter ein Öcalan in Öl? "Das ist hier nicht verboten." Mehr will sie dazu nicht sagen, der nächste Termin wartet: eine Ausstellungseröffnung, wieder geht es um das einstige Militärgefängnis.

Dazu sind prominente Oppositionelle aus Istanbul angereist, darunter der Soziologe Ismail Beşikçi, der wegen seiner Schriften zur Lage der Kurden 17 Jahre in Haft saß. "Ohne den Widerstand im Gefängnis ,Nr. 5' hätten wir nicht in Kobani und Schengal kämpfen können", sagt er. Als Letzte spricht die Oberbürgermeisterin Gültan Kişanak: Die Gesellschaft müsse sich endlich "mit ihrer verdrängten Geschichte" auseinandersetzen.

Tags darauf in ihrem Büro. Kişanak ist eine freundliche Frau, sie wirkt etwas bieder, aber selbstbewusst. Ob ihre Aufforderung auch für Anschläge der PKK auf Zivilisten gilt? "Natürlich", sagt sie. "Aber wenn wir diese Geschichte nicht aufarbeiten, werden wir uns auch den anderen Ereignissen nicht stellen können." Die 43-Jährige war Journalistin, wechselte ins Parlament und ist nun Kommunalpolitikerin. "Die lokalen Verwaltungen haben keine Autonomie", sagt sie. "Wir müssen alle Steuern, die wir erwirtschaften, an den Staat abführen, der uns nur einen kleinen Teil zurückgibt. Und der Staat reglementiert genau, was wir wofür ausgeben dürfen." So wie viele Bürgermeister von der CHP oder der MHP klagt sie, dass die AKP-Regierung ihre Stadt benachteiligen würde. Und wofür würde sie eine größere Autonomie nutzen? "Zum Beispiel, um die Grundstückssteuer zu staffeln – höhere Steuern für große Grundstücke, geringere für kleinere."

Doch es ist nicht lange her, dass sich die DBP-Stadtverwaltungen über alle Vorschriften hinwegsetzten: als im vorigen Jahr Hunderttausende kurdische Flüchtlinge vor dem IS in die Türkei kamen. "Der Staat hat sich nicht um sie gekümmert. Also haben wir Krisenzentren eingerichtet, Camps aufgebaut und die Flüchtlinge über unsere Städte verteilt", erzählt Februniye Akyol, Co-Oberbürgermeisterin von Mardin. Obwohl sie selbst einer Behörde vorsteht, grenzt sie sich vom "Staat" ab: "Der Staat ist für uns Polizei und Militär."

Akyol spricht leise und eloquent, ihr Büro schmücken helle Möbel, Pflanzen und ein expressionistisches Bild. "Man merkt die Frauenhandschrift, nicht wahr?", fragt sie keck. Zuvor sei Mardin von der AKP regiert worden. Nach der Umwandlung zur Großstadt habe die AKP gewusst, dass sie die Wahl verlieren würde und daher Immobilien und sogar das Inventar an Einrichtungen des Staates übertragen. Sie habe die Gelegenheit zum Shoppen genutzt.

Mit ihren seldschukischen Moscheen und assyrischen Kirchen ist die hoch oben gelegene, restaurierte Altstadt von Mardin ein Juwel. Und Akyol ist Assyrerin, die einzige christliche Bürgermeisterin des Landes und mit 26 die zweitjüngste. "Ich bin nicht fromm, aber gläubig", antwortet sie auf die Frage nach dem Kreuz, das sie an ihrer Halskette trägt. Sie hat in Istanbul Versicherungswirtschaft studiert und kam danach zurück. "Unsere Leute wandern aus", sagt sie. "Aber ich will nicht, dass die assyrische Kultur verschwindet." Darum hat sie sich in einem Kulturverein engagiert, nicht jedoch in der kurdischen Bewegung. "Ich bin ein Öcalan-Projekt", sagt sie. Der habe "angeregt", im kosmopolitischen Mardin eine assyrische Kandidatin aufzustellen.

Später setzt sie sich in ihren Dienstwagen, einen Mercedes S350 – eine Spende, wie sie zwar versichert, den Besitz dieses Luxusfahrzeugs in dieser Gegend aber nicht unverdächtiger macht. Es gilt, die Leichname von sieben Kämpfern zu begleiten. Bis zum 35 Kilometer entfernten Grenzübergang schafft es ihr Wagen nicht, zu viele Menschen sind gekommen. Die Rückfahrt führt durch Orte, in denen Tausende den Konvoi säumen. Als der Wagen einen Polizeiposten passiert, erzählt der Fahrer, die Partei habe die Freunde der Toten nur mit Mühe davon abhalten können, sich auszutoben. "Aber eigentlich gibt es nur einen, der diese Jungs aufhält: die Führung", sagt der Fahrer. "Fragen Sie in zwei Wochen, wie viele von ihnen nach Syrien gegangen sein werden", sagt Akyol.

Wird der Krieg hier irgendwann aufhören? "Wir hoffen es sehr", antwortet Akyol leise. "Wenn nicht, wird man auch mich in so einem Konvoi transportieren."