n-tv, 30.05.2015

http://www.n-tv.de/politik/Die-Tuerkei-entscheidet-ueber-ihre-Isolierung-article15196346.html

Cem Özdemir macht Wahlkampf"

Die Türkei entscheidet über ihre Isolierung"

Die deutschen Grünen greifen in den türkischen Wahlkampf ein. Im Interview mit n-tv.de erklärt Parteichef Özdemir, warum ihm diese Wahl so wichtig ist.

n-tv.de: Wie kommt es, dass die Grünen die "Demokratische Partei der Völker", kurz HDP, unterstützen?

Cem Özdemir: Die türkischen Grünen haben selber keine Chance, die Zehn-Prozent-Hürde zu überspringen. Darum haben sie sich der HDP angeschlossen. Und wir unterstützen das aus zwei Gründen. Erstens entwickelt sich die HDP von einer pro-kurdischen Partei zu einer gesamttürkischen Reformpartei. Sie setzt sich für Ökologie ein, für Frauenrechte und die Vertretung von allen religiösen und ethnischen Gruppen. Zweitens: Wenn die HDP in die Große Nationalversammlung kommt, hat Präsident Erdoğan keine Zweidrittelmehrheit, kann die Türkei also nicht in ein Präsidialregime umbauen. "Präsidialdemokratie" sagt Erdoğan, zutreffender wäre der Begriff "Putinregime". Es wäre gut für die Türkei, wenn das verhindert würde.

Also ist diese Wahl besonders entscheidend für die Zukunft des Landes.

Ja, es kommt auf jede Stimme an. Man sieht ja schon jetzt, wie Herr Erdoğan sich das Regieren vorstellt: Druck auf die Opposition, Druck auf kritische Medien, Druck auf die Zivilgesellschaft und keine Akzeptanz für abweichende Stimmen innerhalb der Regierung. Das ist nur ein Vorgeschmack darauf, was passiert, wenn er die Türkei alleine regiert. Diese Wahl wird darüber entscheiden, ob die Polarisierung der türkischen Gesellschaft weitergeht und damit auch die Isolierung der Türkei. Ein EU-Beitritt würde dann in noch weitere Ferne rücken. Oder ob noch einmal eine Chance besteht, den Kurs in Richtung Reformen umzudrehen.

Wie würden Sie das Verhältnis der HDP zur kurdischen Arbeiterpartei PKK beschreiben, die ja noch immer als Terrororganisation eingestuft ist?

Ihre Wurzeln hat die HDP zum Teil in der kurdischen Bewegung. Aber wenn man sieht, welche Kandidaten nun aufgestellt worden sind, wenn man sich den Wahlkampf anschaut und wenn man sieht, dass die HDP auch im Westen, wo weniger Kurden leben, stark ist, dann wird klar, dass die HDP dieses Image hinter sich lassen möchte. Sie will zu einer Bewegung werden, die alle Menschen in der Türkei anspricht. Die HDP wird zu einem Sammelbecken für alle Kräfte, die sich eine europäische, eine demokratische, eine offene Türkei wünschen und kein autoritäres Regime, das sich von Europa ab- und Saudi-Arabien oder Russland zuwendet. Der Erfolg der HDP ist ein Gradmesser dafür, wohin sich die Türkei entwickelt.

Gibt es auch Differenzen?

Es ist klar, dass wir nicht alle Ansichten der HDP teilen. Die HDP muss sich die Frage stellen, ob sie sich die griechische Syriza oder die deutschen Grünen zum Vorbild nimmt. Aber unter den Parteien, die eine Chance auf den Einzug in die Nationalversammlung haben, ist die HDP mit Abstand am grünsten, mit Abstand am reformfreudigsten.

Welche Resonanz hatte ihr Wahlaufruf in der Türkei?

Viele Medien in der Türkei sind Erdogan-Medien, also Staatsfunk. Aber die freien Medien haben groß berichtet. Gleichzeitig sind wir Grünen nun scharfen Angriffen ausgesetzt. Auch ich persönlich auf meiner Facebook-Seite und bei Twitter. Auch daran sieht man, wie viel für die AKP auf dem Spiel steht.

Mit Cem Özdemir sprach Christoph Herwartz