Neue Zürcher Zeitung, 30.05.2015

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Türkei vor der Parlamentswahl

Erdogans Schreckensgespenst

Im türkischen Wahlkampf sorgt die linke Minderheitenpartei HDP für Spannung. Ihr Spitzenkandidat Selahattin Demirtas attackiert «das System Erdogan» mit Charme und Schärfe.

von Marco Kauffmann Bossart, Sanliurfa

Als die dunkle Limousine an den Bühnenrand heranfährt und den Ehrengast einen Meter neben der Treppe auslädt, haben Zehntausende schon zwei Stunden in der stechenden Sonne ausgeharrt. Sie haben sich von den aufpeitschenden Reden der lokalen Parteiprominenz unterhalten lassen und von einer Rockband, die mit kurdischen Songs die Stimmung anheizte. Doch gekommen sind die Leute wegen Selahattin Demirtas: der kurdische Spitzenpolitiker der Demokratischen Partei der Völker (HDP), der bei den Präsidentschaftswahlen im August 2014 Recep Tayyip Erdogan herausforderte und dem starken Mann der Türkei einen Achtungserfolg abtrotzte.

Die Menge in Sanliurfa, einer Provinzhauptstadt unweit der syrischen Grenze, jubelt für den Menschenrechtsanwalt aus der Kurden-Hochburg Diyarbakir, der als Jüngling damit liebäugelte, sich dem bewaffneten Aufstand der kurdischen Arbeiterpartei (PKK) anzuschliessen, und nun die regierende Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) mit rhetorischen Mitteln bekämpft.

Mutterpartei aller Ethnien

Es verstreichen Minuten, bis Demirtas auf der Bühne steht. Fans stürzen sich geradezu auf den schwarzen Audi, während Ordnungskräfte eine Bahn ins Menschenmeer schlagen. Begleitet von bombastischen Klängen aus den Lautsprecherboxen, die am Haken eines Baukrans hängen, schreitet der Hoffnungsträger der türkischen Kurden und anderer Minderheiten ans Rednerpult. «Wollen wir ein Land mit einem Präsidenten, der uns Richtung Diktatur führt?», fragt Demirtas, «oder ein Land, wo Minderheiten, Arme, Arbeiter, alle Ethnien eine Stimme haben?» Darum gehe es bei der Parlamentswahl vom 7. Juni.

Demirtas spielt auf das Ansinnen des türkischen Staatsoberhaupts Recep Tayyip Erdogan an, das Land in eine von ihm beherrschte Präsidialrepublik umzuwandeln. Diesen Plan durchkreuzen könnte nun ausgerechnet die kleine HDP. Schafft sie die 10-Prozent-Hürde und damit den Einzug ins Parlament, dürfte es für die AKP schwierig werden, die notwendige Mehrheit für eine Verfassungsänderung zu erhalten. Daher hat sich Erdogan, der als Präsident eigentlich zur politischen Neutralität verpflichtet wäre, gegen die prokurdische Partei eingeschossen. Seit Wochen zieht er als Stimmenwerber für die Regierungspartei durch das Land. Juristische Beschwerden der Opposition schmetterte die Wahlbehörde mit seltsamen Begründungen ab.

Von vielen wird die HDP als Partei der kurdischen Minderheit wahrgenommen, die in der Türkei ein Fünftel der Bevölkerung ausmacht. Dieses Image versucht die Partei zu korrigieren. Im Wahlkampf präsentiert sie sich als Mutterpartei aller Minderheiten. Neben Demirtas steht an diesem Nachmittag auch eine Jesidin auf der Bühne, die für einen Sitz im Parlament kandidiert. Auf den Wahllisten der Minderheitenpartei finden sich ferner arabische Türken, Aleviten, Armenier, Aramäer, Roma.

In der vordersten Reihe des Publikums applaudieren Zuhörer in Rollstühlen. Die HDP versteht sich auch als Stimme der Behinderten und plädiert für mehr Rechte von Schwulen und Lesben. In der 2012 unter diesem Namen formierten Partei, die verschiedene Bewegungen unter einem Dach vereinte, fühlen sich Kapitalismuskritiker ebenso vertreten wie Umweltaktivisten und Exponenten der Gezi-Bewegung, die 2013 in Istanbul während Wochen gegen Erdogan demonstrierten.

Wie keine andere türkische Partei tritt die HDP für die Gleichberechtigung der Geschlechter ein. Kandidaten und Kandidatinnen halten sich exakt die Waage. Demirtas ist auf dem Papier bloss Co-Vorsitzender der Minderheitenpartei, sekundiert von einer Frau, Figen Yüksekdag. Auf den Bussen, die mit Wahlwerbung durch die Strassen fahren, lächelt von der linken Seite Demirtas und rechts Figen Yüksekdag. Die demonstrative Gleichstellung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Mann mit den feinen Gesichtszügen das Zugpferd der Linkspartei ist.

Demirtas' Entschluss, in die Politik einzusteigen, folgte auf eine traumatische Trauerfeier für einen von Sicherheitskräften ermordeten Kurdenpolitiker, bei der die Polizei in die Menge schoss und mehrere Trauergäste tötete. Der Vater zweier Töchter war damals 18 Jahre alt. 2009 verurteilte ein Gericht in Diyarbakir Demirtas' Bruder Nurettin wegen angeblicher Verbindungen zur PKK zu einer Gefängnisstrafe.

Am Rednerpult hält es Demirtas nicht lange aus. Einem Entertainer gleich, läuft er mit dem Mikrofon in der Hand die Bühne auf und ab, ein Manuskript braucht er nicht. Manche bewundern den 42-Jährigen, weil er stets die Contenance und ein Lächeln bewahrt – so ganz anders als der hemdsärmelige Erdogan, der austeilt, provoziert und beleidigt.

Kobane ist unvergessen

Im faltenfreien Anzug, einem hellblauem Hemd und einer gepunkteten Krawatte wirkt Demirtas an diesem schweisstreibenden Nachmittag etwas «overdressed». Doch passt der Aufzug zum zelebrierten Image des seriösen, charmanten Politikers, dem etwas Staatsmännisches anhaftet. Erdogan einen Dieb zu schimpfen, der Geschäftsfreunden Aufträge zuschanze, überlässt er den Vorrednern. Demirtas spöttelt derweil über Erdogans neuen Palast mit den 1150 Zimmern. Vom Dach des Amtssitzes in Ankara müssten Menschen wie Ameisen aussehen. Und er sagt, es stimme etwas nicht, wenn Benzin für eine Luxusjacht viermal weniger koste als Treibstoff für Landwirtschaftsfahrzeuge. Eine Frau wirft rote Blumen auf die Bühne. Kleinkinder, eingewickelt in die rot-grün-gelbe Fahne der Kurden, winken mit Fähnchen.

In Sanliurfa bewegt sich der Gast gewissermassen auf heimischem Terrain. In der Stadt leben mehrheitlich Kurden. Hier hat man nicht vergessen, dass die türkische Regierung nichts unternahm, als die syrische Grenzstadt Kobane (Ain al-Arab) monatelang von der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) eingekesselt wurde. Nur dank dem von Amerika angeführten Bombardement von IS-Stellungen und dem Einsatz kurdischer Kämpfer wurden die Fanatiker vertrieben und ein Massaker an der kurdischen Bevölkerung abgewendet.

Der nachmittägliche Ruf des Muezzins bringt die Wahlkampfveranstaltung zu einem abrupten Unterbruch. Während Minuten kehrt über dem mit HDP-Wimpeln überzogenen Platz andächtige Ruhe ein. Ebenso sekundenschnell drehen die Lautsprecher nach dem Gebetsruf wieder auf. Während seines Auftritts im anatolischen Hinterland verteidigt Demirtas seine muslimische Identität vehement: «Ist es nicht Sünde, mich als Ungläubigen zu verunglimpfen?» Er reagiert damit auf Angriffe Erdogans, der unlängst mit dem Koran in der Hand vor gottlosen Politikern gewarnt hatte. In der regierungstreuen Presse tauchten Berichte auf, die den Anführer der Oppositionspartei des Verzehrs von Schweinespeck bezichtigten, ein Sakrileg für einen Muslim. Erdogan solle gescheiter den Koran lesen, statt mit dem heiligen Buch Wahlkampf zu treiben, ruft Demirtas aus. Die AKP spielt die religiöse Karte, um konservative Kurden bei der Stange zu halten, die bis anhin für die Regierungspartei stimmten.

Jubel und Victory-Zeichen

An der Kundgebung in Sanliurfa schwenken Teilnehmer Fahnen mit dem Parteiemblem. Nur die Nationalflagge, die sonst in der Türkei überall weht, fehlt. Jünglinge tragen T-Shirts der imaginären Fussballnation Kurdistan, flankiert von Bildern des PKK-Gründers Abdullah Öcalan, der auf der Gefängnisinsel Imrali eine lebenslange Haftstrafe absitzt. Persönlich anwesend ist an diesem Nachmittag Öcalans Nichte Dilek; eine Frau mit wildem Haar und lila Rock, die für die HDP kandidiert, sich auf der Bühne aber damit begnügt, dem Publikum zuzuwinken.

Die Nähe zur PKK macht die Minderheitenpartei angreifbar. Von der Regierung wird sie als Handlangerin einer Terrororganisation gebrandmarkt. Demirtas stellt die HDP als selbstbestimmten Akteur im Friedensprozess dar. In einem Interview erklärte der Co-Parteichef selbstbewusst, er könne die PKK dazu bringen, die Waffen ganz niederzulegen. Seit 2013 gilt bloss ein Waffenstillstand. Doch kaum jemand widerspricht dem Eindruck, dass die Emissäre der Kleinpartei, die den gealterten Revolutionär Öcalan regelmässig im Hochsicherheitsgefängnis besuchen, stärker auf ihn hören als umgekehrt.

Im Anschluss an seine 35-minütige Rede defilieren die lokalen Kandidaten nochmals über die Bühne; ein Finale mit ohrenbetäubender, übersteuerter Musik, das auf riesigen Bildschirmen übertragen wird. «Wir sind alle im selben Schiff, die AKP belegt das obere Deck, wir unten. Die AKP drückt uns unter Wasser. Nur: Wenn die HDP sinkt, gehen wir alle unter», sagt Demirtas warnend. Das tobende Publikum streckt die Finger zum Victory-Zeichen gen Himmel.

Leer aus geht ein Behinderter, der mit einem Spezialgefährt neben Demirtas' auf Hochglanz polierter Limousine parkierte und dessen Hand schütteln wollte. Eine Menschentraube aus Bodyguards, Helfern und Fans, die den Co-Parteichef umkreist, drückt ihn weg. In seinem Gefährt sitzend, protestiert der Mann, hämmert mit der Faust auf die Rücken der Stärkeren. Mit Horn und Blaulicht rast der Wahl-Tross bereits zum nächsten Termin.

Wird die Türkei eine Präsidialrepublik?

kam. Sanliurfa ⋅ Im türkischen Wahlkampf dominiert die von Präsident Recep Tayyip Erdogan angestrebte Einführung eines Präsidialsystems die Diskussion. Erdogan hält eine Abkehr von der parlamentarischen Demokratie für notwendig, um das Land effektiver zu führen. Kritiker warnen indes vor einer Aushöhlung der Demokratie, zumal die Medien- und Meinungsfreiheit gefährdet und die Unabhängigkeit der Justiz nicht gewährleistet sei.

Die regierende Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP), die als einzige Partei eine Präsidialrepublik befürwortet, braucht mindestens drei Fünftel der Abgeordnetensitze (330 von 550), um eine entsprechende Verfassungsänderung durch die Legislative zu bringen. Kommt die von Erdogan mitbegründete islamisch-konservative Partei auf eine Zweidrittelmehrheit, wäre sie sogar davon entbunden, den Wechsel zu einem Präsidialsystem einem Referendum zu unterstellen. De facto hat sich Erdogan bereits nach seiner Wahl zum Staatsoberhaupt im August 2014 erweiterte Exekutivkompetenzen angeeignet, was wiederholt Friktionen mit dem Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu auslöste.

Trotz den notorisch unzuverlässigen Wahlprognosen deuten Umfragen darauf hin, dass die islamisch-konservative AKP wieder die meisten Sitze erhalten wird. Erklimmt die Demokratische Partei der Völker (HDP) allerdings die 10-Prozent-Hürde und zieht neben der AKP, der Republikanischen Volkspartei (CHP) sowie der ultrarechten Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) als vierte Kraft ins Parlament ein, wären die von der AKP erhofften Mehrheitsverhältnisse illusorisch. Im für die AKP schlechtesten Fall verpasst sie die absolute Mehrheit und müsste einen Koalitionspartner suchen. Wenngleich die AKP und die HDP sich im Wahlkampf aufs Heftigste bekämpfen: In den Geheimverhandlungen mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK spannten Exponenten beider Seiten zusammen. Eine Koalition ist nicht völlig auszuschliessen.

Um die 10-Prozent-Hürde zu umgehen, liessen prokurdische Parteien bei den Wahlen von 2007 und 2011 ihre Kandidaten als Unabhängige antreten – 35 wurden gewählt. Der Entscheid, jetzt als Partei ins Rennen zu steigen, wird auch mit dem Wunsch begründet, sich nicht länger zu verstecken. Verpasst die HDP aber die Mindestquote, wäre das prokurdische Lager nicht mehr in der Legislative vertreten und wären Unruhen zu befürchten. Ein Indiz für ihre Stärke war die Präsidentschaftswahl von 2014: Selahattin Demirtas, der Co-Vorsitzende der HDP, schnitt mit 9,8 Prozent der Stimmen besser ab als erwartet.

Erstaunlicherweise liessen die Parteien im Wahlkampf brisante Themen, wie den alle Befürchtungen übertreffenden Flüchtlingsstrom aus dem Nachbarland Syrien und den Bau eines Kernkraftwerks in einer erdbebengefährdeten Region, unangetastet.