Neues Deutschland, 01.06.2015

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Religion als Maske des Krieges

Großmufti von Syrien: »Es geht hier nicht um Konfessionen« / Vorwürfe an EU und Türkei

Ahmed Badr al-Din Hassoun ist Großmufti von Syrien und stammt aus Aleppo. Ein Mufti ist ermächtigt, islamische Rechtsgutachten zu erteilen. Hassoun, geboren 1949, studierte arabische Literatur und promovierte in islamischer Rechtswissenschaft an der Al-Azhar-Universität in Kairo. Im Oktober 2011 wurde sein Sohn Saria (22) Opfer eines Attentates. Mit dem Großmufti sprach in Damaskus Karin Leukefeld.

Das fünfte Kriegsjahr hat in Syrien begonnen, wann hört das Blutvergießen auf?
Wenn die USA, Europa und die Türkei ehrlich und offen gegen diese Kriminellen vorgehen. Wenn sie aufhören, sie mit Geld und Waffen zu versorgen und ihnen Öl abzukaufen, das sie Syrien gestohlen haben. Und wenn die Regierungen in Großbritannien, Frankreich, den USA und Italien eingesehen haben, dass diese Kriminellen, die sie unterstützen, eines Tages sie selbst angreifen werden. Diejenigen, die schwere Verbrechen gegen (das Pariser Satiremagazin - K. L.) »Charlie Hebdo« begangen haben, sind die gleichen, die Verbrechen in Palmyra und Tadmur begehen. Doch warum hat sich die ganze Welt versammelt, um für die zehn Mitarbeiter von »Charlie Hebdo« zu trauern, während wir kein Wort der Trauer für die Menschen hören, die in Libyen, Irak, Syrien, auf dem Sinai und täglich in Jemen getötet werden? Sie fragen, wann das Morden aufhört? Es hört auf, wenn Europa an unserer Seite steht, nicht an der Seite von Kriminellen. Fragen Sie den türkischen, fragen Sie den US-Präsidenten und die Leute (aus den Golfstaaten - K. L.), mit denen er sich in Camp David vor einer Woche getroffen hat.

In Europa heißt es, Präsident Baschar al-Assad tötet sein eigenes Volk.
Präsident Assad hat nie irgendjemanden zu seinem Feind erklärt. Er hat neun Jahre lang einen demokratischen Regierungsstil gepflegt. Die Europäer wussten, dass unter ihm eine Verfassung verabschiedet wurde, wonach ein Präsident zwei Mal wieder gewählt werden kann. Wir befanden uns am Beginn einer großartigen Veränderung in Syrien, und ich bin mir sicher, dass Sie das bei Ihren früheren Besuchen hier in Syrien auch gesehen haben.

Syrien gilt als Heimat des moderaten Islam und des interreligiösen Dialogs. Aber nun heißt es, Schiiten töten Sunniten. Medien in Europa sprechen von einem Religionskrieg in Syrien.
Nein, es geht hier nicht um die Konfessionen. Die Religion wird als Maske benutzt, wie ein Schleier, hinter dem das Morden vollzogen werden kann. Ich habe mich immer gegen Religionsstaaten ausgesprochen, egal, ob sie muslimisch, christlich oder jüdisch sind. Ich habe mich immer für einen säkularen Staat ausgesprochen, wie Syrien es ist. Und die Syrer haben das immer unterstützt. .

Die Menschen in diesem Land sahen sich als Syrer. Heute hört man, dass der eine Schiit oder Sunnit ist, der andere Christ, Alawit und so weiter. Zerbricht das syrische Gesellschaftsgewebe?
In Syrien kontrolliert die Politik die Religionen, nicht umgekehrt. Vor der Revolution in Iran 1979 haben wir hier nicht von Sunniten oder Alawiten gesprochen. Die Aufteilung der Menschen in Sunniten und Alawiten ist ein Mittel, um Streit und Hass zwischen den Menschen zu schüren. In der Hafenstadt Latakia finden Sie 1,5 Millionen Flüchtlinge aus Aleppo, Sunniten und Christen. Und in Bab Touma in Damaskus finden Sie christliche Hilfsorganisationen und Kirchen, die Muslime aufgenommen haben. Wenn Sie an der Universität die Studenten sehen, können Sie keinen Unterschied erkennen, wer Sunnit oder Alawit ist. Sie sind die Generation von morgen, unter ihnen gibt es keine konfessionelle Abgrenzung.

In westlichen Medien wurden Sie kürzlich mit den Worten zitiert, dass Gebiete, die unter der Kontrolle von Milizen stehen, dem Erdboden gleich gemacht werden sollten. Haben Sie das gesagt?
Ich habe den Mördern meines Kindes vergeben und soll zu so etwas aufrufen? Ich habe nicht gesagt, dass die ganze Gegend zerstört werden soll, sondern der Ort, von wo die Mörsergranaten abgeschossen werden. Der Anlass meiner Äußerungen war der Karfreitag, an dem die Terroristen einige Viertel in Aleppo bombardierten, darunter Suleimanieh, wo vor allem Christen leben. Ich habe die toten Kinder unter den Trümmern gesehen, sie trugen ihre Festtagskleider. Im Fernsehen habe ich gefordert, dass alle Zivilisten aus den Gebieten der Terroristen evakuiert werden sollten. Und die Armee sollte die Orte zerstören, von wo aus die Granaten auf die Zivilbevölkerung abgeschossen werden. Und die Armee muss sich versichern, dass Zivilisten die Gegend verlassen haben, die sie unter Beschuss nimmt. Wissen Sie, diese Opposition hat keinen Anstand. Sie zeigen Bilder und Filme über die Mörsergranaten, die sie abschießen, und veröffentlichen das bei YouTube. Seit vier Jahren tun sie das, und jedes Mal, wenn so eine Granate einschlägt, rufen sie »Allahu Akbar«. Mit dem Islam hat das nichts zu tun.

Wird es den Syrern gelingen, sich nach dieser harten Kriegserfahrung wieder zu versöhnen?
Europa sollte wissen, dass die Syrer sich gegenseitig helfen. Wenn die Waffenlieferungen nach Syrien aufhören, wenn die Grenzen geschützt werden, werden Sie nach sechs Monaten hören, dass hier Wahlen stattfinden. Ein Referendum, eine neue Verfassung und vielleicht wird es einen neuen Präsidenten geben. Sie werden hören, dass die Syrer sich hier auf eine neue Ordnung geeinigt haben. Unterstützen Sie die Anstrengungen für einen Waffenstillstand. Sie werden sehen, dass Frieden wachsen wird.