Süddeutsche Zeitung, 01.06.2015 Wahlkampf in der Türkei Erdoğan ist überall Seit Atatürk hat kein Politiker die Türkei so sehr verändert wie Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Die Regierungspartei AKP hat er zu seiner eigenen Machtmaschine ausgebaut. Funktionäre, Anhänger, Gegner - eine Inspektion im Inneren. Von Mike Szymanski Die AKP, die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, ist eine Machtmaschine. Nach jeder Parlamentswahl wurde die islamisch-konservative Kraft in der Türkei stärker. 2002 lag sie bei 34 Prozent, 2007 bei 47 Prozent, seit 2011 regiert sie mit fast 50 Prozent der Stimmen. Weder das Militär noch Gerichte konnten ihren Aufstieg stoppen. "Ab jetzt ist in der Türkei nichts mehr so wie es war", rief ihr Erfinder Recep Tayyip Erdoğan, heute Staatspräsident, zur Gründung 2001. Journalisten aus dem Ausland lässt die AKP kaum noch an sich heran. Eine Inspektion im Inneren. Der Funktionär Antakya, im Süden der Türkei. Ankara ist fern, ein paar Kilometer weiter beginnt Syrien. Ahmet Atiç ist AKP-Vorsitzender in der Provinz Hatay. Hier leben anderthalb Millionen Türken. Schon der Schreibtisch von Atiçs Sekretärin ist größer als der vieler Oppositionspolitiker in Ankara. Der Parteiname funkelt in goldenen Großbuchstaben am Haus. Vor Atiçs Schreibtisch stehen Rosen, die den Kopf ein wenig hängen lassen. Von dem Politiker kann man das nicht behaupten: "Die Vernunft der Nation wird dafür sorgen, dass wir nach dem 7. Juni wieder alleine regieren können." In den Umfragen läuft es gerade nicht so gut für die AKP, womöglich verliert sie sogar die absolute Mehrheit und braucht einen Koalitionspartner. Das hält Atiç aber nur für miese Feindpropaganda. Man möge ihm bitte einen Augenblick zuhören, es sei gar nicht so schwer zu verstehen. Die Erstwähler bei dieser Wahl waren fünf Jahre alt, als die AKP in der Türkei an die Macht kam. Sie wuchsen mit der AKP auf. "Sie erwachen politisch und finden neue Brücken, Staudämme und Flughäfen vor. Und wir sagen ihnen: Hört, vor uns war Finsternis. Wollt ihr, dass es wieder dunkel wird?" Seit Atatürk hat kein Politiker das Land mehr so verändert wie Erdoğan. Für Atiç ist er sogar ein Befreier. Er ist wie Erdoğan frommer Muslim. Wie Erdoğan hat er ein religiöses Gymnasium besucht und hatte danach Schwierigkeiten, an der Uni genommen zu werden. Im laizistischen System der Türkei waren die Religiösen die Problemschüler. Atiç wollte Jura studieren. Er musste ins Ausland. Als er in die Türkei zurückkehrte, hatte Erdoğan diese Ungleichbehandlung 2004 mit einer Hochschulreform beendet. Und Atiç fing an, Politik für die AKP zu machen. Mittlerweile glaubt er, dass der politische Wettbewerb, der Streit über die richtige Politik ein für alle Mal entschieden ist - zugunsten der AKP. Fernsehduelle? "Wir haben keine Zeit für Diskussionen", sagt Atiç. Ein Marktplatz in Adana. Der Staatspräsident beehrt sich, zum Volk zu sprechen. Recep Tayyip Erdoğan sieht erst mal Rot: ein Meer aus Türkei-Fahnen vor ihm. Ganz vorne dürfen die Frauen jubeln. Sie haben ihren eigenen Eingang, ihren eigenen Platz. Die Männer bleiben unter sich. Weit hinten in der Menge steht Mustafa Sığın, 47 Jahre alt. Er zupft einen Zettel aus der Hemdtasche, ein Gedicht für Erdoğan: "Die AKP ist mein Meister / Ich bin ihre Axt / Ich bin ein Werk von dir / Dank dir kann ich leben." Im Moment ist die Axt arbeitslos. Aber bei der AKP fühlt er sich verstanden. Erdoğan hat sich ja auch aus ärmlichen Verhältnissen hochgearbeitet. "Einer von uns", sagen sie in der Menge. "Einer von euch", sagt der Staatspräsident auf der Bühne. Teenager mit Kopftuch brüllen: "Wir sind verrückt nach Erdoğan" Dass Erdoğan sich einen 400 Millionen Euro teuren Palast in Ankara hingestellt hat, stört die Anhänger hier nicht. "Der gehört ja nicht ihm", sagt Sığın, sondern uns, dem Volk. "Wenn das Volk einen anderen wählt, darf er ja auch dort einziehen." Aber wer sollte das sein? Über den Köpfen wehen Erdoğan-Plakate, so groß, dass sie ganze Häuser verhüllen könnten. Wenn Erdoğan irgendwo auftritt, läuft die AKP-Maschine heiß. In Klassenstärke werden die Schüler der Religionsschulen zu ihm gebracht. Man trifft dann auf Teenager mit Kopftuch, die brüllen: "Wir sind verrückt nach Erdoğan." An Geld fehlt es der AKP auch nicht. Laut Finanzministerium bekommt sie umgerechnet etwa 100 Millionen Euro allein an Wahlkampfhilfe vom Staat - das ist mehr als alle anderen Parteien zusammen zur Verfügung haben. Wenn man durch die Basare im Land schlendert, fangen die Leute an zu flüstern, wenn sie erzählen wollen, dass sie die AKP nicht wählen. Etwa 7,5 Millionen Mitglieder hat die AKP. Sie ist überall. Dengir Mir Mehmet Fırat hat die AKP mitgegründet. Jetzt arbeitet er daran, sie zu vernichten. Er sitzt in seinem Büro in der Hafenstadt Mersin und zieht genüsslich an seiner Zigarette. Er sollte das nicht tun. Er hatte Krebs. Zucker hat er auch. Seine Frau muss ihm das Essen machen. 71 Jahre ist er alt. Jetzt spricht er von Generalmobilmachung gegen die AKP. Der alte Mann kann trotzdem helfen. Von 2002 bis 2008 war er Vize-Chef der AKP. "Früher konnte man mit Erdoğan offen reden", sagt er. "Als wir angefangen hatten, hatte noch niemand das ideologische Monopol." Fırat ist Kurde. Die AKP hatte versprochen, die Aussöhnung mit dem türkischen Staat voranzubringen, der kurdischen Sprache wieder Raum zu geben. Für Fırat las sich das auf dem Papier toll. In der Praxis passierte wenig. Als er Erdoğan einmal bei einem Treffen darauf ansprach, giftete der: Ein Volk ohne eigenen Staat brauche keine eigene Sprache. Fırat legte sein Parteiamt nieder. Anfang dieses Jahres lief er zur prokurdischen Partei HDP über. Dort herrscht gerade Aufbruchstimmung wie einst in der jungen AKP. "Er hat das Gedächtnis der AKP ausgelöscht" Erdoğan habe viele Mitstreiter vergrault, beklagt er. "Wir wollten eine zeitgemäße Demokratie." Heute herrscht nur noch Erdoğan. "Er hat das Gedächtnis der AKP ausgelöscht", sagt Fırat. Die Partei habe vergessen, woher sie kam, wohin sie wollte. In diesem Wahlkampf geht es nur noch darum, ob Erdoğan genug Stimmen bekommt, um die Verfassung zu ändern und noch mehr Macht an sich zu reißen. Wie konnte das passieren? Fırat zieht wieder an seiner Zigarette. Macht betäube. Er war ja selbst einmal wichtig, er kennt das. Plötzlich sei man nur noch von Ja-Sagern umgehen. Erdoğan traue niemandem mehr. Im Palast wird sein Essen auf Gift untersucht, bevor er es hingestellt bekommt. Wenn Fırat Erdoğan bei Auftritten erlebt, denke er: Was für ein ängstlicher Mann? URL: http://www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-erdoan-ist-ueberall-1.2501064
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