zeit.de, 01.06.2015

http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-05/tuerkei-parlamentswahl-hdp-kurden-demirtas/komplettansicht

Erdoğan quälen, Demirtaş wählen

Die prokurdische HDP wird die Parlamentswahl am Sonntag entscheiden. Spitzenkandidat Demirtaş wird gefeiert wie ein Popstar, inzwischen wählen auch Türken den Kurden. von Lenz Jacobsen, Istanbul

Selahattin Demirtaş, Parteichef der HDP, steht an einem warmen Frühlingsabend in einem Istanbuler Park auf einer sehr großen Bühne, vor ihm eine sehr große Menschenmenge. Sie haben sich eingesungen zuvor und eingetanzt, so wie es üblich ist im Wahlkampf in dieser musikverrückten Türkei, bei der HDP sowieso, zum Festival haben sie die Veranstaltung erklärt.

Jetzt sind die Trommeln verstummt, und nur noch ein paar Möwen am Himmel kreischen. Demirtaş, auf den in diesen Tagen das ganze Land schaut, zählt auf, was alles passieren würde, sollte seine Partei nur ein paar mehr, die entscheidenden Stimmen holen: Die diktatorische Staatsführung wäre gestoppt. Die regierende AKP würde auseinanderfallen. Präsident Recep Tayyip Erdoğan verlöre seine Gefolgsleute und Anhänger. Es wäre ein Sieg für alle Frauen, ein Sieg für den weltweiten Klassenkampf, ja, sogar ein Sieg gegen den "Islamischen Staat" in Syrien und im Irak. Demirtaş sagt: "Es wäre auch ein Sieg gegen den Imperialismus im Mittleren Osten!"

Natürlich übertreibt der Mann. Aber nur ein bisschen.

Die Zukunft der Türkei hängt aktuell von nichts so sehr ab wie vom Abschneiden der prokurdischen HDP und deren Co-Vorsitzenden Demirtaş bei den Wahlen am 7. Juni. Schafft es die HDP über die Zehnprozenthürde und damit ins Parlament, wird die bisher regierende AKP keine Zwei-Drittel-Mehrheit haben, um die Verfassung nach ihren Wünschen zu ändern. Damit wäre Erdoğans Plan, im Land ein Präsidialsystem mit mehr Macht für sich und sein Amt einzuführen, vorerst gescheitert. Eine starke HDP könnte sogar dafür sorgen, dass die AKP ihre Regierungsmehrheit verliert. Es wäre das Ende einer dreizehnjährigen Erfolgsserie. Demirtaş und seine Partei sind deshalb die größte Bedrohung für Erdoğan – und sein Alptraum.

Im Park haben die HDP-Anhänger Fahnen aufgehängt. "Wir kämpfen für die Pressefreiheit" steht auf ihnen, "Freie Frauen" oder "Für eine große Menschlichkeit". Es sind die Wahlkampfsprüche einer Partei, die zwar in der Tradition älterer kurdischer Parteien in der Türkei steht, aber doch neu und anders ist in diesem Land. Und das ist für die Zukunft vielleicht noch wichtiger als die strategische Bedeutung der HPD bei diesen Wahlen.
Er schreit nicht

Vor allem Demirtaş schafft es, sich als echte Alternative zu den anderen Parteien zu präsentieren, zu den alten kemalistischen Eliten der CHP, den neuen islamisch-konservativen Eliten der AKP und den Nationalisten der MHP. Zu all jenen Parteien also, die sehr genau wissen, wie sie die Türkei formen wollen. Die HDP setzt auf Ökologie, Gleichberechtigung und Minderheitenrechte. Sie will die Vielfältigkeit des Landes ernst nehmen, in dem Türken, Kurden, Sunniten, Aleviten und noch viele andere Gruppen miteinander leben.

Das ist auch eine Frage des Stils. Demirtaş schreit nicht, wie es im türkischen Wahlkampf so üblich ist, er heizt dem politisch sowieso schon so aufgeheizten Land rhetorisch nicht noch weiter ein. Er macht Witze über seine Gegner, aber er beleidigt sie nicht. Eine Besonderheit in der Türkei, in der die politischen Lager abgrundtief verfeindet sind.
Unterstützung von Militanten

Dazu kommt bei der HDP ein klassisch sozialistischer Zungenschlag, der besonders bei jungen Wählern verfängt: "Wenn wir alle, auch die Unterdrückten, zusammen eine demokratische Führung organisieren, werden wir alle zusammen, Arbeiter und Dorfbewohner Hand in Hand, die Staatsführung aufbauen", ruft Demirtaş im Istanbuler Park. Gerade hat auch die DHKP-C ihre Unterstützung für die HDP erklärt; die marxistisch-leninistische Untergrundorganisation war für einige tödliche Anschläge in den vergangenen Jahren verantwortlich. Die HDP nahm den Beistand der Militanten dankend an.

Das passt zur Kritik der erbittertsten Gegner an der HDP: dass sie eigentlich nur als Politiker getarnte Terroristen sind. Der pseudo-politische Arm des gewalttätigen kurdischen Kampfes.

Das ist die Vorgeschichte, die andere Seite der heutigen HDP. Sie ist ein Zusammenschluss der aus der kurdischen Bewegung hervorgegangenen BDP und einigen kleinen linken Gruppierungen. Die BDP hat, wie alle kurdischen Parteien in den vergangenen Jahrzehnten, enge Verbindungen zur kurdischen Arbeiterpartei PKK. Diese hat jahrzehntelang mit Gewalt gegen das türkische Militär und für mehr kurdische Rechte gekämpft. In Europa gilt sie als Terrororganisation, in den kurdischen Gebieten im Südosten der Türkei war sie die einzige echte Interessenvertretung, Wohlfahrtsorganisation nach innen und Kampfeinheit nach außen.

Auch die HDP spricht heute noch von ihrem "Freiheitskampf", die PKK unterstützt die Partei, und die nimmt es gern und dankend an. Auf die Frage, ob es nicht langsam mal Zeit wäre, sich vom PKK-Führer Öcalan zu emanzipieren, sagte Demirtaş vor einigen Monaten im Interview mit der ZEIT: "Die Frage wurde gestellt, aber ihre Antwort interessiert niemanden mehr. Auch ich finde die Frage nicht mehr wichtig." Auf den Demonstrationen der HDP im Südosten des Landes sind die Fahnen mit dem Konterfei Öcalans allgegenwärtig, hier in Istanbul sind an diesem Abend nur einige wenige zu sehen.
"Ein toller, normaler Mann"

Deshalb, wegen der Nähe zu jenen kurdischen Kräften, die den allermeisten Türken als Terroristen gelten, war es bis vor Kurzem undenkbar, dass auch Nicht-Kurden eine kurdische Partei wählen. Nun steht in dem Istanbuler Park beim HDP-Festival die 20-jährige Deniz, die "wirklich gar nicht kurdisch" ist, wie sie sagt, und ist schon ganz aufgeregt, dass sie gleich ihren Helden sehen wird, den Kurden Demirtaş. "Er ist einfach so ein toller, normaler Mann, nicht so wie die anderen Politiker, nicht so grau und nicht immer so böse." Dann reckt sie ihren Kopf Richtung Bühne, um zu sehen, ob er denn nun endlich kommt.

Was hat sich also verändert? Neben der Ausstrahlung ihres Spitzenkandidaten profitiert die HDP noch von anderen Entwicklungen. Zum einen ist im aktuellen Wahlsystem eine Stimme für die HDP der sicherste Weg, Erdoğan zu schaden. Deshalb dürften auch einige strategisch die HDP wählen, die sich sonst anderen Parteien näher fühlen. Erdoğan quälen, Demirtaş wählen.
Die zehn Prozent wackeln

Zum anderen war es die AKP-Regierung selbst, die die Konfrontation mit den Kurden zumindest soweit entschärfte, dass nun auch einige liberale Türken die prokurdische Partei unterstützen. Der Staat befindet sich in einem ziemlich zähen "Friedensprozess" mit der PKK, es gibt einen, wenn auch sehr löchrigen Waffenstillstand und ständige Verhandlungen. Das ermöglicht es den Kurden und der Partei, die aus ihrer Mitte entstanden ist, langsam nicht mehr nur als Staatsfeind wahrgenommen zu werden.

Es geht dabei allerdings nur um eine kleine Gruppe meist junger, liberaler Türken, die mit den anderen Parteien sowieso schon unzufrieden waren. Sieben bis acht Prozent der Stimmen für die HDP werden wohl von Kurden kommen, Nur die restlichen, entscheidenden zwei bis drei muss sie bei Türken erobern.

Demirtaş sagt am Abend in Istanbul: "Die meisten, die sich hier im Park versammelt haben, haben sich entschieden, ihre Stimme der HDP zu geben, aber das wird nicht genug sein. Ihr müsst auch eure Männer und Frauen, Freunde, Verwandte, ja sogar Eure Exfreunde und Exfreundinnen überzeugen, HDP zu wählen." Da lachen sie auf im Park, aber es könnte wirklich knapp werden. In den Tagen nach dem Auftritt werden neue Umfragen bekannt. Eine sieht die HDP bei 12,4 Prozent, eine andere bei 10,4, eine dritte bei nur 9,9. Noch sieben Tage bis zur Wahl.