spiegel.de, 02.06.2015

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Film über Proteste in Istanbul: Gezi, deine Helden

Von Maximilian Popp

Vor zwei Jahren begann auf dem Taksim-Platz in Istanbul der Aufstand gegen die türkische Regierung. Was ist aus den Protagonisten der Protestbewegung geworden? Arte zeigt ein beeindruckendes Generationen-Porträt.

"Die Revolution war einst eine Wahrscheinlichkeit, und sie war sehr schön." So beginnt "Wut", das Buch des türkischen Schriftstellers Murat Uyurkulak, das von dem Freiheitskampf der Kurden im Südosten der Türkei erzählt.

Man muss unweigerlich an diesen Satz denken, wenn man die Bilder sieht, die die Berliner Regisseurinnen Biene Pilavci und Ayla Gottschlich zusammengetragen haben für ihre Dokumentation "Chronik einer Revolte - ein Jahr Istanbul" über die Proteste auf dem Istanbuler Taksim-Platz im Frühsommer 2013: Demonstranten tanzten damals auf Barrikaden, Studentinnen stellten sich den Wasserwerfern der Polizei entgegen, Transvestiten protestierten gemeinsam mit antikapitalistischen Muslimen und den Ultras des Fußballklubs Besiktas Istanbul.

Vordergründig zogen die Demonstranten für den Erhalt des Istanbuler Gezi-Parks auf die Straße. Doch die Proteste richteten sich vom ersten Tag an auch gegen den autoritären Regierungsstil des heutigen türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Für kurze Zeit schien fast alles möglich: Der Sturz Erdogans, die Emanzipation der türkischen Jugend, eine freie, gerechte Gesellschaft.

Biene Pilavci und Ayla Gottschlich haben den Moment des Aufbruchs festgehalten. Das allein ist ein Verdienst. Doch ihr Blick reicht über die Tage des Aufstands hinaus. Als der Protest niedergeschlagen, die Revolution abgemeldet, und die internationale Presse abgereist war, sind die beiden geblieben. Ein Jahr lang haben sie recherchiert, was aus den Demonstranten vom Taksim-Platz geworden ist.

Der Film "Chronik einer Revolte", der am Dienstagabend auf Arte läuft und später im ZDF und in der ARD, begleitet Protagonisten der Protestbewegung vom Ausbruch der Aufstände bis zur Präsidentenwahl im Sommer 2014. Er spiegelt den Mut und die Euphorie der Regierungskritiker ebenso wider wie ihre Angst und Verzweiflung. Er zeichnet nach, wie der eine große Kampf auf der Straße in viele Alltagskämpfe mündete.

Eine ganze Generation ohne Bezug zu Erdogan

Die beiden Regisseurinnen stellen eine Ingenieurin vor, die aus Protest gegen Bauprojekte der Regierung ihren Job aufgegeben hat und nun Tanzunterricht nimmt. Sie treffen einen Journalisten, dem aufgrund kritischer Berichte gekündigt wurde, eine fromme Muslimin, die sich gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik Erdogans einsetzt, einen Armenier. Und sie folgen einem jungen Kurden in den Südosten der Türkei, eine Region, wo sich Staat und Zivilgesellschaft seit Jahrzehnten bekriegen.

Die Momentaufnahmen verdichten sich zum eindrucksvollen Porträt einer Generation, die dynamischer und heterogener ist, als deutsche Medien das oft darstellen, und die sich entfremdet hat von dem Mann, der sie seit mehr als einem Jahrzehnt regiert.

Am Sonntag wählt die Türkei ein neues Parlament. Und erstmals seit Jahren könnte Erdogans "Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung", AKP, als Verliererin aus einer Wahl hervorgehen. Erdogan strebt eine Zwei-Drittel-Mehrheit an, um die parlamentarische Demokratie per Verfassungsänderung abzuschaffen, und durch ein Präsidialsystem zu ersetzen, das ihm uneingeschränkte Macht zubilligt. Doch das Volk versagt ihm zunehmend die Gefolgschaft. Die HDP, ein Bündnis linker Parteien und der Kurden, präsentiert mit Selahattin Demirtas erstmals eine ernstzunehmend Alternative zu Erdogan.

Demirtas ist populär unter jungen Türken, unter Akademikern und Kapitalismuskritikern, also unter jenen Bürgern, die die Gezi-Proteste getragen haben. Seine Partei wird nicht in die Regierung gewählt werden, aber sie könnte genügend Stimmen sammeln, um die Einführung des Präsidialsystems zu verhindern. Die HDP würde auf diese Weise herbeiführen, was mit den Protesten auf dem Takism-Platz begonnen hat: das Ende der Ära Erdogan.

Chronik einer Revolte - ein Jahr Istanbul

D/TR 2015

Regie: Ayla Gottschlich, Biene Pilavci

Drehbuch: Biene Pilavci, Ayla Gottschlich

Kamera: Tan Kurttekin, Fatih Pinar, Ersin Aldemir, Güray Varol

Musik: Cornelius Schwehr

Sendetermine: 2.6., 23.15 Uhr, Arte / 8.6., 0.10 Uhr, ZDF / 12.6., 20.15 Uhr / ZDFkultur 17.6., 9.50 Uhr, Arte