welt.de, 02.06.2015 http://www.welt.de/politik/ausland/article141854755/Erdogan-will-zweimal-lebenslaenglich-fuer-Journalisten.html Erdogan will zweimal lebenslänglich für Journalisten Der türkische Präsident bedroht den Chefredakteur der Tageszeitung "Cumhuriyet", verhängt eine Nachrichtensperre und erstattet persönlich Strafanzeige. Ist das sein Auftakt für die Parlamentswahlen? Von Deniz Yücel Die Türkei ist nicht nur das Land, das in der Rangliste (Link: https://www.reporter-ohne-grenzen.de/fileadmin/Redaktion/Presse/Downloads/Ranglisten/Rangliste_2015/Rangliste_der_Pressefreiheit_2015.pdf) der Organisation Reporter ohne Grenzen auf dem 149. von 180 Rängen steht, irgendwo zwischen Birma und Russland; nicht nur ein Land, in dem zahllose Claqueure der regierungsnahen, besser: der quasi-regierungseigenen Medien die Berufsbezeichnung Journalist beleidigen. Die Türkei ist auch ein Land mit vielen mutigen Journalistinnen und Journalisten, die diesen Namen verdienen. Can Dündar zum Beispiel, Chefredakteur der Tageszeitung "Cumhuriyet". Am Sonntagabend hatte Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan dessen Berichterstattung über mögliche türkische Waffenlieferungen an syrische Extremisten angegriffen und Dündar implizit mit Vergeltung gedroht. Am Dienstagabend wurde bekannt, dass Erdogan über seinen Rechtsanwalt bei der Staatsanwaltschaft in Ankara persönlich Strafanzeige gegen Dündar erstattet hat. Die Vorwürfe: Bildung einer kriminellen Vereinigung, Geheimnisverrat, "Gefährdung der Sicherheit des Staates", "Verbrechen gegen die Regierung", "politische und militärische Spionage" und "Beeinflussung der Justiz". Auch den Strafantrag lieferte Erdogan gleich mit: einmal lebenslänglich mit besonderer Schwere der Schuld, ein weiteres Mal lebenslänglich sowie 42 Jahre Haft. Doch von vorn: "Cumhuriyet" hatte in der vergangenen Woche Videoaufnahmen veröffentlicht, die Waffenlieferungen nach Syrien belegen sollen. Dabei ging es um sieben Lastwagen, die Anfang 2014 nahe der südtürkischen Metropole Adana angehalten und durchsucht worden waren. Der Verdacht, der damals schon im Raum stand: Die Waffen (Link: http://www.welt.de/140636032) waren für Kämpfer in Syrien bestimmt, für die Freie Syrische Armee, die Nusra-Front oder gar den Islamischen Staat. Damals schaltete sich der türkische Geheimdienst MIT ein und bezeichnete sich als Auftraggeber des Transports. Erdogan und sein Ministerpräsident Ahmet Davutoglu verstrickten sich in Widersprüche über Inhalt und Empfänger der Lieferung. "Was in dem Lastwagen war, geht niemanden etwas an", ließ Davutoglu wissen. Inzwischen wurden der Oberstaatsanwalt von Adana und vier weitere Staatsanwälte, die in die Razzia involviert waren, vom Dienst suspendiert und inhaftiert. Geheimnisverrat lautet die Anklage gegen sie, ebenso wie gegen zehn Angehörige der Gendarmerie, welche die Durchsuchungen durchgeführt hatten. Nicht nur die kurdische Seite beschuldigt die Türkei, heimlich Dschihadisten in Syrien zu unterstützen. Über die Enthüllung der "Cumhuriyet" wurde eine Nachrichtensperre verhängt und der Zugriff auf das Video blockiert. Mittlerweile hat die Zeitung die Aufnahmen ganz von ihrer Seite entfernt, aber sie sind noch auf Youtube (Link: http://www.youtube.com/watch?v=vFGWY51_wow) zu sehen. In einem Interview im Staatsfernsehen TRT (Link: http://www.sozcu.com.tr/2015/gundem/erdogandan-can-dundara-tehdit-846822/) folgte am Sonntagabend Erdogans Attacke auf Dündar. Die Moderatorin fragte Erdogan: "Sie hatten kritisiert, dass eine Zeitung über die MIT-Transporte berichtet hatte, und hatten dies als Spionage bezeichnet. Können Sie das noch ein bisschen ausführen?" Erdogan: "Die Operation gegen den Geheimdienst war illegitim, ein Spionageakt. Und diese Zeitung hat sich an der Spionage beteiligt. Da wurden Zahlen genannt. Was sind deine Quellen, woher hast du diese Zahlen? … Ich denke, dass die Person, die diese Exklusivnachricht veröffentlicht hat, dafür einen hohen Preis bezahlen wird. So einfach lasse ich ihn nicht davonkommen." Dieser Drohung hat er nun den nächsten Schritt folgen lassen. Diese Attacke fügt sich ein in eine Reihe von Tiraden Erdogans gegen Medien in der jüngsten Zeit. Vor zwei Wochen griff der Präsident die Dogan-Mediengruppe (Link: http://www.welt.de/141139175) (unter anderem "Hürriyet", "Radikal") namentlich an, am Samstag beschimpfte er auf einer Kundgebung (Link: http://www.welt.de/141707165) zum Jahrestag der Eroberung Konstantinopels die Journalisten der "New York Times" als "Lumpen". Dündars erste Reaktion kam in der Dienstagausgabe der "Cumhuriyet": "Lass die Drohungen, antworte auf diese Fragen!", schrieb er (Link: http://www.cumhuriyet.com.tr/koseyazisi/289651/Tehdidi_birak__bu_20_soruya_yanit_ver_.htmler) an die Adresse des Präsidenten. In seiner Replik konfrontiert er Erdogan und die AKP-Regierung mit 20 Fragen, etwa mit dieser: Weshalb ermittle die Staatsanwaltschaft, so fragt Dündar, gegen seine Zeitung wegen Geheimnisverrats und werfe ihr im gleichen Atemzug vor, gefälschte Aufnahmen zu verbreiten? Seine vielleicht wichtigste, weil grundsätzliche Frage: "Wenn eine Handlung nach internationalem Recht illegal ist, kann man dann von einer Zeitung Komplizenschaft erwarten? Macht sich ein Journalist nicht vielmehr dadurch schuldig, wenn er einen solchen Sachverhalt nicht veröffentlicht?" Zudem heißt es in einer von knapp hundert Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unterzeichneten Solidaritätserklärung (Link: http://www.cumhuriyet.com.tr/haber/turkiye/289581/SORUMLU_BENiM.html) : "Nicht nur unser Chefredakteur Can Dündar, wir alle sind verantwortlich." Hunderte kritische Journalisten entlassen Der 53-jährige Dündar gehört zu den renommiertesten Zeitungs- und Fernsehjournalisten des Landes. Er arbeitete lange Zeit für die Tageszeitung "Milliyet", die damals zur Dogan-Gruppe gehörte. Nachdem der Dogan-Konzern wegen angeblicher Steuervergehen zu einer Strafe von mehreren Hundert Millionen Euro verurteilt worden war, wurde das Blatt an den Mischkonzern Demirören verkauft, der enge geschäftliche Verbindungen zur AKP unterhält. Mitte 2013 wurde Dündar gekündigt – "aus Gründen, die ohnehin jeder kennt", wie er damals schrieb. Er sei weder der Erste noch der Letzte, dem es so ergehe. Tatsächlich waren damals, kurz nach den Gezi-Protesten, Hunderte von kritischen Journalisten, die es in den regierungsnahen Medien noch gab, entlassen worden oder hatten selber gekündigt. Ende 2013 kam Dündar zur "Cumhuriyet", zu deren Chefredakteur er Anfang dieses Jahres berufen wurde. Die im Jahr 1924 gegründete Zeitung ist die älteste der Republik, und Republik bedeutet ihr Name im Türkischen. Die Institution "Cumhuriyet" hat eine sehr wechselvolle Geschichte hinter sich. In den vergangenen zwei Jahren wurde das Blatt, das im Besitz einer Stiftung ist und zu den wenigen wirklich unabhängigen Medien gehört, zu einem Auffangbecken für geschasste kritische Journalisten, die aus den mittlerweile AKP-nahen Medien, aber auch von Blättern der Dogan-Gruppe kamen. Stärker noch als die größte Oppositionspartei CHP, der sie ideell nahesteht, versucht sie sich seit geraumer Zeit, von der säkular-nationalistischen Linie der jüngeren Vergangenheit zu entfernen und sich für linke und liberale Leser zu öffnen. Am 24. April, dem Jahrestag des Gedenkens an den Völkermord an den Armeniern, sorgte sie mit der auf Armenisch und Türkisch gehaltenen Titelzeile "Nie wieder" für große Aufmerksamkeit. Auftakt einer Repressionswelle gegen die Medien? Womöglich sind Erdogans (Link: http://www.welt.de/themen/recep-tayyip-erdogan/) Drohungen auch nur der Auftakt zu einer großen Repressionswelle. Am Montag twitterte der Whistleblower "Fuat Avni" (Link: http://twitter.com/fuatavni_f) , dass Erdogan für den Fall eines schlechten Abschneidens bei der Parlamentswahl am Sonntag zu einem großen Schlag ausholen werde. Geplant sei nicht nur die Verhaftung von 200 Personen, darunter zahlreiche Journalisten, sondern auch die Enteignung des Dogan-Konzerns. Wer oder was sich hinter diesem
rätselhaften Twitterkonto verbirgt, ist unklar. In den vergangenen anderthalb
Jahren wurden von dort mehrfach bevorstehende Säuberungsaktionen und Verhaftungswellen
(Link: http://www.welt.de/135413114) gegen Anhänger der Gülen-Bewegung
zutreffend vorhergesagt, darunter die Verhaftung von Redakteuren der Zeitungen
"Zaman" und "Taraf" und die Enteignung der Bank Asya.
In anderen Fällen, etwa einem angeblich für den diesjährigen 1. Mai (Link:
http://www.welt.de/140412580) geplanten Massaker, bewahrheiteten sich
"Fuat Avnis" Prognosen nicht.
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