Neue Zürcher Zeitung, 02.06.2015

http://www.nzz.ch/wirtschaft/wirtschaftspolitik/ein-wirtschaftswunder-verliert-an-glanz-1.18553496

Die Türkei vor den Wahlen

Ein Wirtschaftswunder verliert an Glanz

Wie kommt der türkische Wachstumsmotor wieder auf Touren? Der Staatschef Recep Tayyip Erdogan pocht auf mehr Vollmachten. Nötig wären aber strukturelle Reformen, etwa eine Flexibilisierung des Arbeitsmarkts.

von Marco Kauffmann Bossart, Istanbu

Recep Tayyip Erdogan, Staatsoberhaupt der Türkei und oberster Wahlkämpfer des Landes, wirbt mit einer verlockenden Rechnung um Stimmen: Während seiner zwölfjährigen Amtszeit als Regierungschef hat sich die Wirtschaftsleistung fast verdreifacht. Doch eigentlich könnte der Konjunkturmotor noch schneller drehen – unter der Voraussetzung, dass bei den Parlamentswahlen vom 7. Juni jene Kräfte gewännen, die den Systemwechsel von einer parlamentarischen Demokratie in eine Präsidialrepublik befürworten.

Unter dem Potenzial

Eigentlich verpflichtet die Verfassung den türkischen Staatspräsidenten dazu, über den politischen Gräben zu stehen und sich schon gar nicht in die Niederungen des Wahlkampfs zu begeben. Auf den Rednerbühnen muss Erdogan, der seit Wochen durch die Provinzen tourt, die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) gar nicht beim Namen nennen. Die Zuhörer begreifen schnell, was der Präsident von ihnen erwartet. Damit es weniger offensichtlich nach Wahlkampf aussieht, umrahmt Erdogan seine Auftritte gerne mit Eröffnungsfeiern für Bauwerke.

Der starke Mann der Türkei hofft auf eine Zweidrittelmehrheit, die es ihm erlauben würde, ohne Referendum eine Verfassungsreform durchzuziehen. Wie ein CEO möchte Erdogan das Schwellenland am Bosporus führen. Bis zum Jahr 2023, dem 100. Geburtstag der Republik, soll es die Türkei in den Kreis der zehn grössten Volkswirtschaften der Welt schaffen. Die islamisch-konservative Regierung sieht sich als Wegbereiterin einer «neuen Türkei», die einflussreicher und wohlhabender sein soll. Erdogans Nachfolger am Regierungssitz, Ahmet Davutoglu, spielt schon jetzt bloss die zweite Geige. In mancher Hinsicht hat Erdogan den Systemwechsel schon vollzogen.

Ein robuster wirtschaftlicher Aufschwung – zwischen 2010 und 2013 kletterte das Bruttoinlandprodukt (BIP) beispielsweise um durchschnittlich 6% pro Jahr – hat der AKP geholfen, dreimal in Folge die Wahlen zu gewinnen. Strukturschwache Regionen im Hinterland mutierten zu anatolischen Tigern, die Regierung machte den Energiemarkt wettbewerbsfähig, sie reformierte den Bankensektor und flexibilisierte den Wechselkurs. Inzwischen hat das türkische Wachstumswunder jedoch an Glanz verloren. 2014 erreichte das Schwellenland ein Plus des BIP von 2,9%. Im laufenden Jahr erwarten unabhängige Ökonomen eine Expansion um rund 3%, was deutlich unter dem langfristigen Potenzial liegt. Die Weltbank stellte unlängst fest, die Türkei sei am Ende des fulminanten Aufschwungs angelangt. Von Regierungsseite wird primär auf exogene Faktoren verwiesen, etwa die Kriegswirren in den wichtigen Exportländern Syrien und Irak.

Volatile Kapitalzuflüsse

Dämpfend wirkt zudem die laue Konjunktur in der Europäischen Union, die rund die Hälfte der türkischen Ausfuhren kauft. Allerdings trüben auch binnenwirtschaftliche Faktoren die Bilanz. Die Privathaushalte zügeln den Konsum; Umfragen deuten auf ein schwindendes Vertrauen der Bevölkerung in die Wirtschaftspolitik. Nur zögerlich vermag die Türkei ausländische Direktinvestitionen (FDI) anzuziehen, wobei bürokratische Hindernisse und mangelnde Rechtssicherheit die Attraktivität des Schwellenlandes mit seinen 78 Mio. Einwohnern schmälern. Dies beschränkt den mit FDI verbundenen Wissenstransfer. Der geringe Anteil von Hightech-Produkten an den Gesamtexporten (4%) weist darauf hin, dass diesbezüglich noch ein erheblicher Nachholbedarf besteht.

Rechtzeitig vor den Parlamentswahlen legte Ministerpräsident Davutoglu ein Konjunkturprogramm vor. Vorgesehen sind Steueranreize für Investitionen und Zuschüsse an Unternehmen, die Arbeitsplätze schaffen, zumal die Arbeitslosenquote mit 11% auf den höchsten Stand seit fünf Jahren geklettert ist. Längerfristig angelegt ist der von der Legislative verabschiedete 10. Entwicklungsplan. Die darin skizzierten Strukturreformen zielen unter anderem darauf ab, die Abhängigkeit von Energieeinfuhren zu reduzieren. Zudem soll über steuerliche Anreize die Erwerbstätigkeit erhöht werden. Mit einer Beschäftigungsquote von nur 50% liegt die Türkei weit unter dem Durchschnitt (66%) der Mitgliedstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).

Das rasante Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahre ging einher mit einem Leistungsbilanzdefizit, das zwischen 2010 und 2013 durchschnittlich 7,5% des BIP erreichte. Der Fehlbetrag wird hauptsächlich durch Portfolioinvestitionen finanziert, womit das Schwellenland hohen Risiken ausgesetzt ist, sollte sich die Stimmung gegenüber den Emerging Markets verdüstern und sollten Gelder abgezogen werden.

«Too loose for too long»

Der Internationale Währungsfonds (IMF) fordert Ankara im jüngsten Länderbericht dazu auf, das strukturelle Defizit in der Handels- und Leistungsbilanz zu reduzieren. Letzteres liege mindestens 2,5 Prozentpunkte über dem durch die Fundamentaldaten gerechtfertigten Niveau. Ungeachtet tieferer Preise für Erdöl und andere Energieimporte konnte der Fehlbetrag 2014 nur leicht gesenkt werden. Hochwertige Technologieprodukte und Energieträger müssen importiert werden.

Als Wachstumsbeschleuniger will die Regierung die Geldpolitik einsetzen, die vom IMF jedoch mit dem wenig schmeichelhaften Prädikat «too loose for too long» versehen wird. Die türkische Zentralbank steht unter Dauerbeschuss von Staatspräsident Erdogan, der weitere Zinssenkungen fordert, um die Volkswirtschaft zu stimulieren. Als der Gouverneur der Notenbank, Erdem Basci, den geldpolitischen Vorstellungen des Staatsoberhaupts nicht nachkam, wurde er als Verräter tituliert.

Obschon die Notenbank Standfestigkeit unter Beweis stellt, hat sich die Inflationsrate (2014: 8,9%) stark von der Zielmarke (5%) entfernt. Zwischen 2006 und 2013 traf Ankara nur zweimal ins Ziel, was der Glaubwürdigkeit der Währungshüter wenig förderlich ist. Zudem beschleunigte das Kesseltreiben gegen Basci den rapiden Fall der Lira, die gegenüber dem Dollar seit Mai 2013 rund 40% an Wert eingebüsst hat. Dies bringt jene Firmen in die Bredouille, die in Dollars verschuldet sind, deren Erträge aber in Lira anfallen. Nach Berechnungen privater Institute hat sich diese Verschuldungsproblematik im vergangenen Jahrzehnt akzentuiert.

Die hartnäckige Teuerung schmälert derweil die Wettbewerbsfähigkeit und den Anreiz, zu sparen. Mit einer Sparquote von rund 15% liegt die Türkei weit niedriger als andere Schwellenländer (China: 45%). Angesichts der geringen Ersparnisse im Inland müssen Investitionen durch Kapitalzuflüsse aus dem Ausland finanziert werden. Eine höhere Sparquote wäre daher ein wirksames Mittel, um den Fehlbetrag in der Leistungsbilanz zu reduzieren.

Rigider Arbeitsmarkt

Erdogans ambitioniertes Entwicklungsziel, bis 2023 ein BIP von 2000 Mrd. $ zu erarbeiten, würde ein jährliches Wachstum von 7% bedingen, was derzeit als wenig realistisch erscheint. Wolle sich die Türkei aus der «Middle Income Trap» befreien, brauche es Rechtssicherheit, transparente Regulierung der Märkte und mehr Innovation, warnte unlängst die Weltbank. Die OECD legte Ankara in ihrem Wachstumsbericht ans Herz, unterrepräsentierte Gruppen wie Frauen und Ältere stärker in den Arbeitsmarkt einzubinden. Arbeitgeber werden jedoch durch einen im internationalen Vergleich hohen Mindestlohn abgeschreckt. Saftige Lohnnebenkosten selbst für Teilzeitbeschäftigte und ein rigider Kündigungsschutz führen dazu, dass viele nur in der Schattenwirtschaft eine Beschäftigung finden. Angezeigt wäre daher eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Im Global Competitiveness Report des World Economic Forum (WEF) schafft es die Türkei im Bereich «Arbeitsmarkt-Effizienz» nur gerade auf den 131. von 144 Plätzen. Schlecht schneidet das Schwellenland auch bezüglich Ausbildungsqualität und Preisstabilität ab; unter dem Strich bleibt Rang 45.

Galt Erdogan nach der Jahrtausendwende als Garant für eine marktorientierte Politik, die von glaubwürdigen Reformern wie dem Vizeministerpräsidenten Ali Babacan vorangetrieben wurde, weht jetzt ein von Paranoia und Autokratismus erfüllter Geist durchs Land. Zudem schaltet sich der Patriarch unentwegt in Dossiers ein, die nicht in seinen Zuständigkeitsbereich fallen. Jüngstes Beispiel ist die Konfusion um die Vergabe von 4-G-Lizenzen für Telekomkonzerne. Die Bemerkung Erdogan, es lohne sich, auf die 5-G-Technologie zu warten, veranlasste die gefallsüchtige Regierung offenbar, eine für Mai geplante Auktion zu verschieben.

Autoritäre Züge

Irritierend mutet auch der Feldzug gegen Mitglieder der sogenannten Gülen-Bewegung an, den viele Beobachter auf den 17. Dezember 2013 zurückführen. An diesem Tag begannen Staatsanwälte mit Korruptionsermittlungen gegen Politiker und Geschäftsleute, die Erdogan nahestehen. Die Angeschuldigten sahen dahinter einen Umsturzversuch aus dem Umfeld des Predigers Fethullah Gülen, mit dem sich Erdogan überworfen hatte. Den Zorn Erdogans bekam die Bank Asya, die dem in die USA geflüchteten Kleriker nahesteht, zu spüren. Das Finanzinstitut, das nach den Regeln des Islamic Banking geschäftet, wurde wegen angeblicher Verfehlungen vom Staat einverleibt. An allen Fronten wittert die Regierung Unterwanderungsversuche der «Gülenisten», Protestiert die Zivilgesellschaft, beschuldigt Erdogan ausländische Mächte, Drahtzieher zu sein.

Ein Wechsel zu einer Präsidialrepublik, zugeschnitten auf den resoluten «Firmenchef» Erdogan, dürfte kaum ein neues Wachstumswunder bewirken. Vielmehr riskiert die Türkei, in ein autokratisches Herrschaftssystem zurückzugleiten, das eigentlich der Vergangenheit anzugehören schien.

Ein Land als Grossbaustelle

kam. Istanbul ⋅ Die türkische Regierung hat den Ausbau der Infrastruktur zu einem der Schwerpunkte ihrer Wirtschaftspolitik gemacht. In Istanbul entsteht bis zum Jahr 2017 ein dritter Flughafen, der mit einem geplanten Passagieraufkommen von jährlich 150 Mio. zum grössten der Welt werden soll. Der Bosporus, die Meerenge, die Europa und Asien trennt, wird mit einem dreistöckigen Eisen- und Autobahntunnel verbunden. Überirdisch lässt die Regierung eine dritte Brücke errichten, die beide Kontinente verbindet. Zudem wird mit dem sogenannten Kanal Istanbul eine Alternative für die Handelsschifffahrt gebaut, die heute über den stark frequentierten Bosporus vom Mittelmeer ins Schwarze Meer gelangt.

Die Erweiterung der Verkehrsinfrastruktur beschränkt sich aber nicht nur auf die Grossstädte: Allein im Mai haben Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und der Regierungschef Ahmet Davutoglu zwei neue Provinzflughäfen eröffnet. Damit dürfte unentschlossenen Wählern in Erinnerung gerufen werden, wer die Entwicklung im Land voranbringt. Angesichts der stetig steigenden Stromnachfrage wird auch stark im Energiesektor expandiert. Die Behörden rechnen mit einem jährlichen Zuwachs des Strombedarfs um 5,6% bis ins Jahr 2023. Daraus resultiert ein Investitionsbedarf von schätzungsweise 130 Mrd. $. Im Südosten des Landes soll unter der Ägide des russischen Staatskonzerns Rosatom das erste Kernkraftwerk der Türkei entstehen. Eng kooperiert Ankara mit Moskau auch im Pipelinebau. Der russische Präsident Wladimir Putin hatte im Dezember 2014 in der Türkei angekündigt, die geplante Rohrleitung nach Bulgarien und über den Balkan bis nach Österreich – bekannt als «South Stream» – aufzugeben. Stattdessen soll nun das Erdgas neu über die Türkei exportiert werden. Gemeinsam mit Aserbaidschan treibt Ankara derweil die Arbeiten für die Transanatolische Pipeline (Tanap) voran. Präsident Erdogan, dem eine grosse Nähe zu Baumagnaten nachgesagt wird, betrachtet den Sektor als eine zentrale Säule der türkischen Volkswirtschaft. Kritiker warnen jedoch vor einer zunehmend grösser werdenden Abhängigkeit des Landes vom Bausektor.