Frankfurter Rundschau, 04.06.2015 Das umkämpfte Parlament Von Frank Nordhausen In der Türkei toben heftige Kämpfe im Vorfeld der Parlamentswahlen. Häufig gibt es Anschläge auf Wahl- oder Parteibüros. Umfragen zeigen, dass die seit zwölf Jahren regierende AKP erstmals stark absacken könnte. Die Wucht der Bombe war so stark, dass sie die Fassade im zweiten Stock wegriss. Die Innenwände haben Einschusslöcher wie von einem Maschinengewehrangriff. Wären Menschen im Raum gewesen, sie hätten die Explosion wohl nicht überlebt. „Wir hatten unglaubliches Glück, nur zwei Kollegen wurden verletzt“, sagt Cemil Yapiz, ein schmaler, zurückhaltender Mann. Als die Sprengladung hochging, stand der Rentner gerade in der kleinen Teeküche nebenan. Er redet schnell, der Schock ist ihm auch zehn Tage nach dem Anschlag noch anzumerken. Der 71-jährige Kurde geht durch die verwüsteten Räume des Fünfzigerjahrebaus, Hauptquartier der linken, prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) in der südtürkischen Zweimillionenstadt Adana. Er berichtet, wie er selbst den Blumentopf mit der darin versteckten Bombe tags zuvor von einem Boten entgegennahm und im Versammlungsraum abstellte. Er sagt: „Die Täter wussten genau, wann unsere Sitzung mit 30 Leuten stattfinden sollte. Zum Glück wurde die Besprechung ein Stockwerk höher verlegt.“ Exakt zur selben Zeit wie in Adana ging am 18. Mai auch in der HDP-Zentrale in der siebzig Kilometer entfernten Großstadt Mersin am Mittelmeer eine Bombe hoch. In Mersin wurde niemand verletzt, weil ein Mitarbeiter in dem Blumengeschenk eine Abhörwanze vermutet und den Topf in den Garten gestellt hatte. Die Explosionen erschütterten nicht nur die Parteizentralen der HDP, sondern die ganze Türkei vor den Parlamentswahlen am kommenden Sonntag. Sie warfen unheilvolle Schatten über das Land. Die HDP-Mitarbeiter in Adana glauben bis heute nicht, dass ein Linksextremist der Täter war, wie es die Polizei behauptet. Sie haben keinen Zweifel, wer hinter den Anschlägen steckt: „Die Regierungspartei. Weil sie Angst hat, die Wahl zu verlieren.“ Die islamisch-konservative Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) wolle Chaos schüren, Kurden und Nationalisten aufeinander hetzen, um sich selbst als Ordnungskraft zu präsentieren, sagt der HDP-Parlamentskandidat Rudvan Turan. Mehr als 200 Attacken auf HDP-Wahlbüros gab es bisher landesweit im Wahlkampf. „Doch die Taktik hat nicht funktioniert. Wir reagieren einfach nicht auf die Provokationen.“ AKP könnte absacken Umfragen zeigen, dass die seit zwölf Jahren regierende AKP, die 2011 noch fast 50 Prozent der Stimmen holte, erstmals stark absacken könnte. Sie wird zwar wohl wieder größte politische Kraft werden, könnte im Parlament aber ihre Mehrheit verlieren und damit das Ziel verfehlen, das Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan ihr aufgetragen hat: eine Verfassungsänderung, um ein auf ihn zugeschnittenes, autoritäres Präsidialsystem zu installieren. In Adana hat die AKP schon bei den Kommunalwahlen vor einem Jahr ihre Macht verloren. Seither wird die Stadt von der sozialdemokratischen Republikanischen Volkspartei (CHP) verwaltet. Adana wirkt im Zentrum modern und aufgeräumt, mit grünen Parks und blühenden Bäumen. Doch hinter der freundlichen Fassade verbergen sich schwere Probleme. Die Arbeitslosigkeit ist mit 19 Prozent fast doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt, tausende Kleinunternehmer sind bankrott, mehr als 200.000 syrische Kriegsflüchtlinge belasten den Arbeitsmarkt. In Adana ist der türkische Wirtschaftsboom vorbei. Die dramatische ökonomische Lage sei deshalb das wichtigste Thema für die Menschen, sagt die lokale CHP-Spitzenkandidatin Elif Dogan Türkmen. Die bekannte Anwältin und Frauenrechtlerin empfängt zum Gespräch in ihrem Wohnhaus in einem Villenviertel. Sie ist in einer demokratischen Abstimmung ihrer Partei auf Platz eins der Wahlliste gewählt worden. Nur die CHP hat solche Vorwahlen durchgeführt, dies habe die Zustimmung zu den Kandidaten enorm gestärkt, sagt Elif Dogan Türkmen. Sie lächelt, obwohl sie im Rollstuhl sitzt und über Schmerzen klagt. "Demokratie ist in Gefahr" Vergangene Woche bettelte ein Mann sie in der City um Geld an, zückte plötzlich eine Pistole und zerschoss ihr ein Knie. Der Täter war ein polizeibekannter Krimineller, den sie vor Jahren einmal anwaltlich vertreten hatte. Er griff sie auf einem gesicherten Parkplatz an, wo eigentlich niemand unkontrolliert Zugang habe. „Es gibt welche, die Unruhe stiften wollen“, sagt die 50-Jährige Frau mit vornehmer Zurückhaltung. „Die Demokratie in der Türkei ist in großer Gefahr. Wir haben die Wahl zwischen einem autoritären System und einer freiheitlichen Demokratie. Und die Regierungspartei bekämpft uns mit unfairen Mitteln. Sehen Sie sich doch nur die Straßen an.“ Fähnchen, überall Fähnchen und Poster in den AKP-Farben Blau, Weiß und Orange: Der Wahlkampfetat der AKP beträgt ein Vielfaches der anderen Parteien. 8,5 Millionen Mitglieder gehen von Wohnung zu Wohnung, um Wähler zu werben. Riesige AKP-Plakate dominieren die Straßen mit Botschaften, die mehr Krankenhäuser, mehr Autos, mehr Kampfflugzeuge versprechen. Im staatlichen Fernsehen bekommt die AKP zehnmal so viel Sendezeit wie die Mitbewerber. Es ist, als ob bei einem Fußballspiel die stärkere Mannschaft auch noch den Schiedsrichter stellt: Der formal unparteiische Präsident Erdogan wirbt ganz offen für die AKP. Der 61-Jährige reist durch die Türkei, spricht mehrmals täglich vor Tausenden Menschen. Denn für ihn geht es um Alles oder Nichts. Falls sein Präsidialsystem nicht kommt, muss er befürchten, dass Korruptionsermittlungen gegen seine Familie eingeleitet werden. Bisher kann sich Erdogan auf die ärmeren, religiöseren Schichten stützen, die ihm einen gewissen Wohlstand und gesellschaftliche Anerkennung verdanken. Wie lange noch? Überhaupt keinen Draht hat der Präsident zu den jüngeren, moderneren Türken, die man in Adanas Cafés treffen kann: Leute, die sich Gedanken machen um Pluralismus, Umwelt, zivilgesellschaftliches Engagement. Diese Hälfte der türkischen Gesellschaft lehnt den Präsidenten nicht nur ab, sie hält ihn für einen verrückten Diktator. Jetzt geht es darum, wer mehr Wähler mobilisieren kann. Seinen großen Auftritt in Adana hat Erdogan am vergangenen Sonnabend als „Treffen des Präsidenten mit dem Volk“ plakatieren lassen. Zehntausend Menschen mögen es sein, die sich hinter Polizeisperren im Stadtzentrum versammelt haben, unter haushohen, an Kränen befestigten Transparenten mit seinem Konterfei. Die meisten sind langjährige AKP-Wähler. Wie Mustafa Sirin, 47 Jahre alt und arbeitslos. Er zieht einen Zettel mit einer selbstverfassten Ode aus der Tasche: „Du Meister der AKP / Ich bin dein Hammer / Ich bin ein Werk von dir / Ich kann für Dich sterben!“ Als der Präsident auf die Bühne tritt, schwenken seine Fans Hunderte rote türkische Fahnen. Die Frauen, von den Männern durch Gitter getrennt, jubeln „Recep Tayyip Erdogan!“, als wäre sein bloßer Name ein Zauberwort. Dann legt er los, pointiert und emotional wie immer. Aber seine Rede zündet nicht richtig. Er spricht fast nur über die Vergangenheit. Seine Feindbilder sind die von gestern. Seine Visionen auch. Echt jauchzen können da nur die Teenager aus den religiösen Schulen, die geschlossen zum Platz chauffiert wurden. „Wir lieben Erdogan, denn er hat uns den Weg gebahnt“, schreien die Mädchen. Anders geht es drei Stunden nach Erdogans Auftritt in einem Arbeiterviertel von Adana zu. Auch hier ein Meer roter Fahnen, dazu rhythmische Trommelschläge. Die rechte MHP, die stark ist in der Region, hat zu einem „Miting“ gerufen, einer Wahlkundgebung auf einem kleinen Platz zwischen dreistöckigen Ziegelbauten. Rund tausend Menschen sind gekommen, die Stimmung ist frenetisch. Hier kommt der Kandidat zum Volk, nicht das Volk zum Kandidaten. Als Seyfettin Yilmaz, 47, ein bulliger Typ wie ein Boxer, auf die Bühne marschiert, übersteuert die Musik, Knallkörper zünden, Feuerwerksraketen platzen im Abendhimmel. So hat auch Erdogan einmal angefangen. „Wir arbeiten Tag und Nacht für euch. Sie aber rauben euch aus“, legt der Kandidat los. Seine Faust zerhackt die Luft. „Ihr seid arm. Sie sind reich! Sie leben in Palästen. Sie sagen, ihr braucht ein Präsidialsystem! Blödsinn! Was ihr braucht, sind Arbeit und Essen!“ Zum Schluss verspricht er den Rentnern mehr Rente, den Arbeitern mehr Lohn, den Arbeitslosen, dass die syrischen Flüchtlinge verschwinden und in Lager gesperrt werden: „Wir räumen auf! Wir bringen euch Jobs! Wir machen euch reich!“. Da formen die Zuhörer mit ihren Händen das Parteisymbol der „grauen Wölfe“ und brüllen: „Adana ist stolz auf dich!“ Ganz hinten, vor einer Teestube, steht Muzafer Kef, 48 Jahre alt und arbeitslos. „Ich bin total verstört“, sagt er. Er hat früher die AKP gewählt, aber er versteht Erdogan nicht mehr. Er findet dessen Prunkpalast falsch. Er findet die Syrienpolitik verkehrt. Er will nicht, dass Erdogan ein Superpräsident wird. „Ich wähle diesmal die MHP“, sagt er. Viele Menschen in Adana sagen: „Ich stimme diesmal für die Opposition.“ Plötzlich reden sie über die Regierungspartei, als habe sie eine ansteckende Krankheit. Kurden könnten entscheidend sein Für nationalistische Türken allerdings ist die AKP immer noch deutlich weniger suspekt als die linken Kurden von der HDP, der sie vorwerfen, der politische Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zu sein. Ausgerechnet die Kurden spielen aber diesmal die Rolle des Züngleins an der Waage. Überspringt die HDP die landesweite Zehnprozenthürde, wird es keine Superpräsidentschaft für Erdogan geben. Derzeit laufen die Kurden in Scharen von der AKP zur HDP über, ganze Clans im Südosten haben öffentlich ihren Wechsel erklärt. Und Erdogan? Um nationalistische Wähler nicht an die MHP zu verlieren, wütet er gegen die HDP, die er als Terroristenpartei bezeichnet. Doch diese Attacken schrecken auch konservativ-religiöse Kurden ab. Und seit der charismatische HDP-Spitzenkandidat Selahattin Demirtas seine Partei auch für andere Minderheiten, für Linke, Alternative, Ökologen öffnete, hat sie ohnehin reale Chancen, die unfaire Wahlhürde zu überspringen. In Adana und ihrer Nachbarprovinz Mersin leben viele Kurden, die in den 1990er Jahren hierher emigrierten. Sie machen bis zu einem Fünftel der Wähler aus, die Parteien umwerben sie. In der Mittelmeerstadt Mersin kämpfen sogar zwei kurdische Kandidaten, mit sonderbar vertauschten Rollen, gegeneinander. Der AKP-Mann Muhsin Kizilkaya, Journalist und Literat, war früher bekannt als Linker. Vor einigen Jahren wechselte er die Seiten und lief zur AKP über. Beim Interview in einem noblen Mersiner Hotel nimmt der kompakt gebaute 52-jährige Platz unter einem Großfoto des laizistischen Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk, den viele Kurden für einen Feind ihres Volkes halten und viele AKP-Anhänger für einen Feind des Islams. Mehr verdrehte Symbolik ist in der Türkei kaum denkbar. Kizilkaya ist in der AKP, weil er jetzt die linken Kurden hasst und Erdogan für den Befreier hält. Erst die AKP habe die kurdische Sprache entkriminalisiert, sagt er. „Kein Kurde muss mehr Angst haben, im Bus Kurdisch zu sprechen. Kurden können sich als erstklassige Bürger fühlen. Sie können sogar Staatspräsident werden. Sollen wir etwa wieder zurück in die Unterdrückung?“. Dann schwärmt Kizilkaya von Erdogans Autobahnen, den Flughäfen, der neuen Größe der Türkei. Er fuchtelt mit den Armen, er klingt plötzlich wie ein religiöser Konvertit. „Die AKP wird noch 40 bis 50 Jahre herrschen!“, ruft er zum Schluss. Sein wichtigster Gegenspieler in Mersin ist Dengir Mir Mehmet Firat, Chef eines der größten kurdischen Clans in der Türkei, 71 Jahre alt, von Krankheiten geplagt, aber noch immer ein Bey - ein Grandseigneur, der seine Zigaretten mit eleganter Geste raucht. Firats Wort hat Gewicht in der Region. Der weißhaarige Mann im blauen Sommerjackett war 2001 einer der Mitgründer der AKP und bis 2008 ihr Vizechef. Wie Kizilkaya sah auch Firat in der AKP die Chance, die Kurden zu gleichberechtigten Bürgern eines Staates zu machen, der sie zuvor nur als Feinde betrachtete. Bis 2011 saß er für die AKP im Parlament. Damals habe ideologische Offenheit geherrscht. Aufbruchsstimmung wie jetzt bei der HDP, sagt der Patriarch. „Wir wollten eine zeitgemäße Demokratie, Minderheitenrechte, den Beitritt zur EU vorantreiben.“ In den ersten drei Legislaturperioden habe Erdogan all dies geliefert und als erster Premier die Existenz eines „Kurdenproblems“ eingeräumt. Doch nach dem Sieg bei der Parlamentswahl 2011 habe er die Partei gesäubert und islamisiert. „Er hat ihr demokratisches Gedächtnis auf Null gestellt.“ Schließlich habe Erdogan den von ihm selbst eröffneten Friedensprozess mit den Kurden verraten, als er im letzten Herbst den Fall der von Islamisten belagerte syrischen Kurdenstadt Kobani prophezeite. Dieser Verrat werde die AKP jetzt Hunderttausende kurdische Stimmen kosten. Firat selbst zog sich 2011 aus der Partei zurück, als ihm Erdogan in einem Gespräch erklärt, ein Volk ohne eigenen Staat brauche auch keine eigene Sprache. Als kurdische Freunde ihn vor drei Monaten fragten, ob er für die HDP kandidieren und sein Gewicht als Clanführer einbringen wolle, stimmte er sofort zu. Er hält den HDP-Spitzenkandidaten Selahattin Demirtas für ein großes politisches Talent, einen Demokraten und den richtigen Mann, um Erdogan zu stoppen. Aus jahrelanger Zusammenarbeit weiß Firat genau, wie Erdogan tickt. Der Präsident habe den Kontakt zur Realität verloren, weil er nur noch von Jasagern umgeben sei. Er sei cholerisch, paranoid, aggressiv. „Er wird alles tun, um seine Macht nicht zu verlieren.“ Dann spricht Firat über den merkwürdigen Auftritt von Spezialpolizisten, die kürzlich die Wohnung von Demirtas in der südostanatolischen Stadt Diyarbakir durchsuchen wollten. Er äußert einen schweren Verdacht: „Sie wollten ihn exekutieren. Demirtas überlebte, weil er die Tür nicht öffnete. Erst als seine Bodyguards kamen, zeigten die Leute ihre Polizeiausweise.“ Und wie weit würde Erdogan gehen, wenn er nicht gestoppt wird? „Sehr weit. Das wäre ein Unheil für die Türkei und ihre Demokratie.“
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