Neue Zürcher Zeitung, 03.06.2015

http://www.nzz.ch/international/europa/die-akp-muss-um-ihre-mehrheit-bangen-1.18554815

Parlamentswahlen in der Türkei

Die AKP muss um ihre Mehrheit bangen

Jahrelang ist die türkische Regierungspartei AKP von Erfolg zu Erfolg geeilt. Aber in diesem Wahlkampf ist es anders. Erstmals setzt die Opposition eigene Themen. Und an der AKP-Wählerbasis gärt es.

von Inga Rogg, Ankara

Seit der Gründung der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) vor vierzehn Jahren hat Hakan Akin zu ihren treuesten Wählern gehört. Die AKP war für ihn politische Heimat, und ihr Erfolg in gewisser Weise auch sein Erfolg. Seine Frau hat, wie es der Architekt des Erfolgs, Präsident Recep Tayyip Erdogan, gerne predigt, drei Kinder zur Welt gebracht. Auf den Präsidenten lässt Akin auch heute kaum etwas kommen. Dass Erdogan das Recht mit Füssen tritt, indem er sich trotz gegenteiliger Verfassungsvorschrift massiv in den Wahlkampf einmischt, offen kritische Journalisten bedroht und mit dem Koran in der Hand die Religion in einer Weise politisiert, wie es die Türkei noch nicht gesehen hat, stört Akin nicht sonderlich. Einen «grossen Führer» nennt er Erdogan.

Enttäuschte Wähler

Trotzdem will Akin zum ersten Mal nicht der AKP seine Stimme geben, wenn am Sonntag ein neues Parlament gewählt wird. Richtig wütend sei er auf die Partei, sagt Akin. Der Grund dafür? Der 51-jährige Automechaniker steht vor einem Schuldenberg. Und das kam so: In den fetten Jahren, als die türkische Wirtschaft brummte , gründete der Bruder eine Autowerkstatt, stellte Akin an und nahm ein Darlehen für einen Hauskauf auf. Die Werkstatt lief gut, und beide Familien gönnten sich mit Ratenzahlungen all die Dinge, von denen sie früher nur träumen konnten. Doch dann, irgendwann nach den letzten Wahlen im Jahr 2011, setzte die Abwärtsspirale ein. Die Kunden blieben aus. Als der Bruder seine Kredite nicht mehr zurückzahlen konnte, sprang Akin ein, bis auch er keinen Kredit mehr bekam. Umgerechnet 75 000 Franken an Schulden hat er angehäuft. «Ich weiss nicht mehr, wie ich meine Kinder ernähren soll.» Der soziale Abstieg hat den schmächtigen Grauhaarigen in eine tiefe Depression gestürzt. Seit sechs Monaten hege er Selbstmordgedanken. «Die AKP hat Geschäftsleuten wie uns viel versprochen. Nichts hat sie gehalten. Wir sind ihr völlig egal.»

Im Bezirk Mamak, wo Akin seine Werkstatt hat, hat die AKP vor vier Jahren 49,7 Prozent der Stimmen geholt, genau so viel wie landesweit. Wie Akin gehört auch Belgüzar Palabiyik zu den AKP-Wählern der ersten Stunde, im Gegensatz zu ihm will sie die Partei am Sonntag wieder wählen. Die 33-jährige Witwe ist dreifache Mutter, und eines ihrer Kinder ist behindert. Natürlich habe jede Partei ihre schlechten Seiten, sagt Palabiyik. Doch sie habe von Erdogans Partei nur Gutes erfahren. Die Regierung habe sie in jeder Hinsicht unterstützt, und sie könne heute frei das Kopftuch tragen. «Derzeit gibt es für mich keine Alternative zur AKP.»

Wie die gesamte Türkei hat der Bezirk im östlichen Zentrum der Hauptstadt unter der AKP eine rasante Entwicklung erlebt. Nur noch vereinzelt stehen zwischen den vielen neuen Wohnblöcken die ärmlichen Hütten der Zuwanderer aus Anatolien, und die Strassen sind geteert. «Die anderen reden, wir handeln», lautet ein zentraler AKP-Wahlslogan. Gerne gibt sich die Partei als Garant von Stabilität. Doch daran zweifeln nicht nur Akin, sondern auch viele andere Kleinunternehmer.

Gewandelte Opposition

Akin will diesmal die Republikanische Volkspartei (CHP) wählen. Jahrelang kam die grösste Oppositionspartei als Verfechterin der kemalistischen Eliten daher, deren Wahlkämpfe sich in Erdogan-Bashing erschöpften. Doch die CHP hat offenbar aus ihren Fehlern gelernt. Ihr Vorsitzender Kemal Kilicdaroglu lässt zwar keine Gelegenheit aus, um gegen Erdogan und die Korruption der AKP vom Leder zu ziehen. Jüngster Tiefpunkt ist dabei ein Schlagabtausch um eine angebliche goldene Toilette in Erdogans Prunkpalast . Im Übrigen konzentriert sich Kilicdaroglu aber auf die Verlierer des Wirtschaftswunders: die Arbeiter, kleine Geschäftsleute, Rentner. Die CHP verspricht eine Erhöhung des Mindestlohns von derzeit rund 315 auf gut 526 Franken, die Rentner sollen jährlich zweimal eine doppelte Pension erhalten. «Ich vertraue Kilicdaroglu», sagt der Automechaniker Akin.

Die CHP habe ideologischen Ballast abgeworfen, sagt Özgür Ünlühisarcikli, Direktor des German Marshall Fund in Ankara. «Die CHP ist nicht nur sozialer, sie ist auch liberaler geworden.» Für den Fall seiner Wahl als Ministerpräsident hat Kilicdaroglu den Bau einer ökologischen Mega-City in Anatolien angekündigt. Mit solchen Projekten und der Fokussierung auf soziale und Wirtschaftsfragen zeige die CHP, dass sie regierungsfähig sei, sagt Ünlühisarcikli. Dass die CHP die Wahlen gewinnt, schliessen die meisten Experten aber aus. Die Prognosen für die AKP liegen bei bis zu 44 Prozent. Viel hängt vom Abschneiden der prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) ab. Selbst wenn es die HDP nicht ins Parlament schaffe , werde die AKP nicht die Zweidrittelmehrheit bekommen, die sie für die Einführung des von Erdogan gewünschten Präsidialsystems brauchen würde, meint Ünlühisarcikli. Möglicherweise sei die AKP sogar erstmals auf einen Koalitionspartner angewiesen.

Wahltaktische Überlegungen

Erdogans Machtzuwachs unbedingt verhindern will Veysel Yildirim. Darüber hinaus treiben den 37-jährigen Angestellten aus Mamak Sorgen vor einem Überschwappen des Bürgerkriegs in Syrien in die Türkei um. Um einen Wahltriumph der AKP zu verhindern, habe seine Familie beschlossen, ihre Stimmen zu splitten, sagt Yildirim. «Wir sind alle überzeugte Kemalisten und CHP-Wähler. Wenn wir alle CHP wählen, ändert das aber nichts. Deshalb wählen zwei von uns HDP, damit sie die Zehnprozenthürde schafft.»

Wahltaktische Überlegungen stehen auch für Ersin Peker im Vordergrund. In den letzten beiden Parlamentswahlen hat der Kommunikationstechniker aus dem zentralen Bezirk Yenimahalle die AKP gewählt. Wie Akin und die Witwe Palabiyik hat er viel Lob für die Infrastrukturentwicklung, von der die AKP im Wahlkampf noch mehr verspricht. Aber wie den Automechaniker aus Mamak drücken Peker, der seit kurzem arbeitslos ist, wirtschaftliche Nöte. Mit dem Angestellten Yildirim teilt er die Kritik am aussenpolitischen Kurs der Regierung von Ministerpräsident Ahmet Davutoglu. Zudem bereite ihm die Polarisierung der Gesellschaft Sorgen. Deshalb werde er die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) wählen, sagt Peker. Ausgerechnet die ultranationalistische MHP? «Ich bin kein Nationalist. Solidarität, Gleichheit, Frieden und eine gute Zukunft sind mir wichtig», so der 45-Jährige. «Mir geht es um eine grössere Balance im Parlament.»