Der Standard, 05.06.2015

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Türkei-Wahl: Kurden bringen Erdogan in Bedrängnis

Markus Bernath

Am Sonntag geht es vor allem darum, ob um die Kurdenpartei HDP die Zehnprozenthürde schafft

Ankara – Umdrehen und den Rücken zeigen ist jetzt Mode geworden. Eine Gruppe von Frauen in Igdir, ganz im Osten der Türkei, hat das diese Woche getan, als Tayyip Erdogan mit seinem Konvoi durchfuhr. Hunderte in Mardin und anderen Städten im mehrheitlich kurdischen Teil des Landes taten es ihnen gleich, wann immer der Staatspräsident auftauchte und Wahlkampf machte, was er laut Verfassung gar nicht machen sollte.

"Mein Anstand verbietet es, das anders auszudrücken", erklärte Erdogan gewieft, als er seinen Zuhörern die unhöfliche Geste der Frauen beschrieb und sie doch indirekt als ehrlose Kurdinnen beschimpfte. Erdogan braucht Gegner, um Politik zu machen. Es war nie anders. Doch dieses Mal hat er tatsächlich ernst zu nehmende Herausforderer bekommen.

Mit einem Schachzug haben die Kurden den Präsidenten und langjährigen Premier in Bedrängnis gebracht. Bei der Parlamentswahl am Sonntag treten sie erstmals geschlossen als Partei an. Gelingt der HDP, der Partei der Demokratischen Völker, der Sprung über die Zehnprozenthürde, sitzt sie mit 50 oder 60 Abgeordneten im Parlament in Ankara. Erdogans Traum von einer neuen Verfassung mit einem mächtigen Präsidenten ist dann geplatzt. Scheitert die HDP aber, sind die Kurden nicht mehr im Parlament vertreten. Straßenkrawalle wie im Oktober 2014 könnten ausbrechen, die Türkei in eine lange Phase der politischen Instabilität schlittern.

Furcht vor neuen Kämpfen

"Wenn wir die Hürde nicht überspringen, sind die Berge meine Heimat", stand am Mittwoch schon drohend auf einem Plakat bei einer Massenkundgebung des Co-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtas. Mit "Berge" ist das Kandil-Gebirge im Nordirak gemeint, wo die kurdische Untergrundarmee PKK ihr Hauptquartier hat. Die "Partei der Separatistenorganisation" nennt Erdogan jetzt die HDP. Noch vor nicht allzu langer Zeit war sie Partner in den Friedensverhandlungen, die Erdogan mit der PKK und ihrem inhaftierten Führer Abdullah Öcalan begonnen hatte.

Gewalt hat diesen Wahlkampf bereits überschattet. Mehr als 160 Angriffe auf Parteibüros und Wahlkampfstände meldete die HDP. Zwei Bomben explodierten im Mai fast zeitgleich in ihren Parteigebäuden in Mersin und Adana. Ein Busfahrer, der am Mittwoch HDP-Anhänger zu einer Wahlkampfveranstaltung in der Provinz Bingöl gebracht hatte, wurde erschossen aufgefunden. Ein Kandidat der Regierungspartei AKP wurde mit einem Messer verletzt, eine Kandidatin der sozialdemokratischen CHP aus einem Mietwagen heraus angeschossen. In Erzurum, wo islamische Nationalisten stark sind, haben Donnerstag an die 200 Aktivisten versucht, eine HDP-Kundgebung zu verhindern.

Hohe Eintrittshürde ins Parlament

Den Rechtsnationalisten der MHP sagen die Umfragen Stimmengewinne voraus, während unsicher ist, ob die Kurden- und Linkspartei tatsächlich über die zehn Prozent kommt. Erdogan und seine Gefolgsleute wollen sie unter dieser Marke halten. "Demirtas isst Schweinefleisch" titeln die regierungstreuen Zeitungen oder "Demirtas sagt, unsere Kaba ist der Taksim-Platz". Er tue weder das eine noch das andere, versichert der 42-Jährige. Die Kaba stehe in Mekka, und Schweinernes habe er noch nie gekostet. Dann lässt Demirtas wieder Fernsehteams in sein Haus, die ihn beim Frühstück mit Frau und Töchtern filmen. Wie eine ganz normale türkische Familie, so soll der Zuschauer sie sehen: keine Kalaschnikow in der Küche, kein Plan für eine Zerstückelung der Türkei.

Die Erwartungen an die größte Oppositionspartei, die CHP, sind unter diesen Umständen nicht hoch. Hält sie ihre knapp 26 Prozent von der Wahl 2011, muss sie schon zufrieden sein. Ein Teil der politisch liberal gesonnenen Türken, so wird erwartet, gibt dieses Mal der HDP seine Stimme, um den Einzug der bunten Kurden- und Minderheitenpartei ins Parlament zu sichern. Der CHP-Chef aber war es, der Erdogan unablässig Machtrausch und Verschwendungssucht vorhielt. Sogar ein "goldenes Klo" habe Erdogan in seinem schwarz errichteten Präsidentenpalast, behauptete Kemal Kiliçdaroglu. Erdogan lud ihn ein, es zu finden.

Spekulationen schießen ins Kraut, was die Zeit nach dieser Wahl angeht: Die AKP, seit 2002 an der Macht, werde auseinanderfallen, sagen die Erdogan-Gegner voraus. Vielen in der Partei, angefangen beim früheren Präsidenten Abdullah Gül, ist der autoritäre Zug Erdogans unheimlich geworden. Bisher aber hat die Disziplin bei den konservativen Islamisten noch immer gesiegt. (Markus Bernath, 5.6.2015)