spiegel.de, 05.06.2015

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Irakische Provinz Anbar: Sunnitische Stämme laufen zum IS über

Von Christoph Sydow

Die Terrormiliz "Islamischer Staat" sammelt weitere Unterstützer im Irak. Sunnitische Stammesführer haben dem selbsternannten Kalifen Baghdadi die Treue geschworen. Sie wollen nun gemeinsam gegen die Regierungstruppen kämpfen.

Der Kampf gegen die Terrororganisation "Islamischer Staat" lässt sich militärisch allein nicht gewinnen - das betonen die USA und ihre Verbündeten immer wieder, zuletzt auf einer Anti-IS-Konferenz in Paris. Die Dschihadisten müssten politisch besiegt werden, etwa indem sich die Muslime in den vom IS bedrohten Gebieten den Dschihadisten entgegenstellen.

Doch die Realität sieht anders aus: Die Terrormiliz ist nicht nur militärisch auf dem Vormarsch, sie feiert nun auch einen wichtigen politischen Erfolg. Dutzende Vertreter sunnitischer Stämme im Irak haben dem selbsternannten Kalifen des IS, Abu Bakr al-Baghdadi, in den vergangenen Tagen ihre Treue versichert.

Die Dschihadisten veröffentlichten ein Video, das eine Stammesversammlung am vergangenen Samstag in Ramadi zeigen soll, der umkämpften Hauptstadt der Provinz Anbar. Dort sind etwa 50 Vertreter sunnitischer Großfamilien zu sehen, die einen Treueeid auf Baghdadi abgeben.

Hunderte Stammeskämpfer sollen bereitstehen

Ein zweites Treffen fand am Mittwoch in Falludscha statt. Auch dort schworen irakische Stammesführer, sie würden fortan Baghdadi "gehorchen und folgen". Scheich Ahmed al-Jumaili, Sprecher der Stammesversammlung in Falludscha, erklärte anschließend, die massive iranische Unterstützung für die Regierung im Irak habe die Würdenträger zu diesem Schritt getrieben.

"Nach mehreren Treffen und Diskussionen zwischen den Stammesältesten und Ranghöchsten von Falludscha haben wir die einstimmige Entscheidung getroffen, uns an die Seite des 'Islamischen Staates' zu stellen", teilte Jumaili mit. "Er ist die einzige Macht, die sich der Regierung der Safawiden und ihrer Miliz entgegenstemmt."

Die Safawiden waren eine Herrscherdynastie, die vom 16. bis 18. Jahrhundert in Persien regierte und dort den schiitischen Islam als Staatsreligion einführte. Heute ist der Begriff ein Schimpfwort radikaler Sunniten für die Iraner. Der IS bezichtigt die Regierungen in Teheran und Bagdad, sie wollten wie einst die Safawiden Iran heute den Irak schiitisieren.

Jumaili warf der irakischen Armee vor, sie habe bei den Angriffen gegen den IS im Westirak Tausende Unschuldige getötet und verwundet.

Der Stammesführer kündigte an, dass "Hunderte junger Männer" zum Kampf an der Seite des IS bereit seien. "Und ihre Zahl wächst", behauptete Jumaili.

Die Gefolgschaft der irakischen Stämme entscheidet maßgeblich über das Schicksal der Provinz Anbar, die direkt an die Hauptstadt Bagdad angrenzt. Eben jene Stammesverbände, die nun Baghdadi die Treue schworen, hatten 2007 die Vorgängerorganisation des IS, "al-Qaida im Irak", 2007 weitgehend aus Anbar vertrieben.

IS tötet Soldat vor den Augen der Scheichs

Seither weigerte sich die von Schiiten dominierte Zentralregierung in Bagdad allerdings beharrlich, diese sunnitischen Kämpfer adäquat auszurüsten. Das hat nun offenbar der IS übernommen. Nach Angaben von Jumaili haben die Dschihadisten die Stammeskämpfer "mit allen erforderlichen Waffen und Munition ausgerüstet".

Doch derzeit ist noch völlig unklar, ob die Stämme wirklich gänzlich freiwillig zum IS übergelaufen sind. Während der Versammlung in Falludscha tötete ein IS-Terrorist einen gefangengenommenen irakischen Soldaten vor den Augen der versammelten Scheichs. Bei dem Opfer soll es sich um einen Sunniten gehandelt haben. Der öffentliche Mord darf als Warnung an die Stämme verstanden werden, auf keinen Fall wieder die Seiten zu wechseln.

Im vergangenen Jahr hatte der IS in Syrien demonstriert, zu welchen Grausamkeiten er gegenüber Stammeskämpfern bereit ist, die sich ihm widersetzen. Die Dschihadisten verübten unweit der irakischen Grenze ein Massaker an Hunderten Mitgliedern des Schaitat-Stammes.

Auch das Motto der Stammesversammlungen in Anbar ist eine kaum versteckte Warnung: "Ein Boot" - ein ungewöhnlicher Name für einen Zusammenschluss in einer Wüstenregion. Die Botschaft des IS an die Iraker lautet: Wenn wir den Krieg verlieren und untergehen, dann nur gemeinsam.