welt.de, 04.06.2015

http://www.welt.de/politik/ausland/article141956960/Atatuerks-Partei-Mit-Frauen-zurueck-an-die-Macht.html

Atatürks Partei – Mit Frauen zurück an die Macht?

Die säkulare CHP hat bei der Wahl am Sonntag gute Chancen, zweitstärkste Kraft zu werden. Sie will mit dem AKP-Thema Wirtschaft punkten und mit modernen Frauen die Städte erobern. Von Deniz Yücel , Izmir

Blond, Wirtschaftswissenschaftlerin, Frau – war da nicht was? Richtig: Tansu Çiller, von 1993 bis 1996 die erste und bislang einzige Frau im Amt des türkischen Ministerpräsidenten. In ihre Amtszeit fiel die Zollunion mit der EU, sie bleibt aber auch in Erinnerung als eine Ära, in der Folter oder das "Verschwindenlassen von Gefangenen" an der Tagesordnung waren. Den Vergleich mit Tansu Çiller ist Selin Sayek-Böke gewohnt: "Solange ich nur äußerlich mit ihr verglichen werde, habe ich nichts dagegen; Tansu Çiller war eine gut aussehende Frau", sagt sie. Politisch aber stehe sie für etwas anderes, für "Menschenrechte und soziale Marktwirtschaft, nicht für Neoliberalismus mit diktatorischen Zügen".

Selin Sayek-Böke ist eine der stellvertretenden Vorsitzenden der Republikanischen Volkspartei (CHP) und Spitzenkandidatin im Wahlbezirk Izmir 1, wo bei der Parlamentswahl am Sonntag 1,5 Millionen Stimmberechtigte die 13 Abgeordneten des südlichen Teils der Provinz wählen werden. Umfragen zeigen die CHP bei knapp unter 30 Prozent, sie dürfte ziemlich sicher hinter der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) zur zweitstärksten Kraft werden. Wieder.

Dabei versucht die CHP, die Amtsinhaber von der AKP auf einem Terrain zu schlagen, das diese immer für sich reklamiert haben: die Ökonomie. Darum ist die 42-Jährige nach dem Parteichef Kemal Kilicdaroglu im Wahlkampf eines der präsentesten Gesichter der Partei. Denn die Ökonomie, das ist ihr Fach.

Die Partei Atatürks kommt zurück

Sie hat an der renommierten Technischen Universität des Nahen Ostens (ODTÜ) Volkswirtschaft studiert, an der Duke University in North Carolina promoviert und dann in Washington für die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds gearbeitet. Ihren Eltern, einem linken Ärztepaar, habe dieses Engagement gar nicht gefallen, erzählt sie lachend. "Aber am Ende konnte ich sie davon überzeugen, dass ich dort etwas zum Guten bewegen wollte." Vor gut zehn Jahren kehrte sie in die Türkei zurück, wo sie an der Privatuniversität Bilkent als Assistenzprofessorin arbeitet.

Ihre Partei, die CHP, war die Partei Mustafa Kemal Atatürks (Link: http://www.welt.de/themen/kemal-atatuerk/) , die Staatspartei in der Anfangszeit der Republik. Ab Ende der 60er-Jahre wandelte sie sich unter Bülent Ecevit zu einer sozialdemokratischen Partei, ab Ende der 90er-Jahre kehrte sie unter Deniz Baykal zu ihren nationalistischen – und, wie viele sagten, elitären Anfängen zurück. Ob es um die Zypernfrage, die Kurdenpolitik oder den EU-Beitritt ging – Baykals CHP erweckte den Eindruck, sie würde sich jeder Modernisierung versperren und heimlich auf einen Militärputsch hoffen. Die Folge waren Wahlergebnisse um die 20 Prozent.

Seit der leicht onkelhaft wirkende Kemal Kilicdaroglu, ein Alevit aus der kurdischen Provinz Tunceli und ehemaliger Direktor der staatlichen Rentenkasse, im Jahr 2010 die Parteiführung übernahm, versucht die CHP, wieder eine sozialdemokratische Politik zu verfolgen. An Fahrt gewann diese Erneuerung durch den Gezi-Aufstand, den auch viele innerhalb der CHP nicht nur als Proteste gegen Recep Tayyip Erdogan (Link: http://www.welt.de/themen/recep-tayyip-erdogan/) und seine AKP interpretierten, sondern auch als Protest gegen eine erstarrte und engstirnige Opposition. "In der Partei Baykals hätte ich mich nicht engagiert", sagt Selin Sayek-Böke. "Die CHP von heute ist offener, den Menschen zugewandter."

Moderne Frauen sollen die Großstädte erobern

Ein Zeichen dafür waren die parteiinternen Vorwahlen, mit denen die CHP die meisten ihrer Kandidaten bestimmten. So ganz verzichtete auch Kilicdaroglu nicht darauf, einzelne Plätze selber zu bestimmen – was bei allen anderen Parteien gang und gäbe ist. Vor allem bestand er darauf, dass alle Listen in den Großstädten von Frauen angeführt werden.

Von Frauen wie Selin Sayek-Böke. Oder der 38-jährigen Safak Pavey, Spitzenkandidatin im größten Wahlbezirk Istanbul 1, die ihr halbes Leben im europäischen Ausland gelebt, dort für verschiedene UN-Institutionen gearbeitet und sich bereits im letzten Parlament einen Namen als Menschenrechtlerin gemacht hat. Oder der 46-jährigen Schriftstellerin Zeynep Altiok-Akatli, deren Vater Metin Altiok, ein prominenter Schriftsteller, 1993 beim Massaker auf einem alevitischen Kulturfestival ermordet wurde. Keine Bevölkerungsgruppe wählt so geschlossen die CHP wie die Aleviten.

Altiok-Akatli führt noch vor Parteichef Kilicdaroglu die CHP-Liste im Bezirk Izmir 2 an. Denn die Drei-Millionen-Metropole an der Ägäis gilt als säkular und nationalistisch und ist vielleicht die letzte Hochburg des Kemalismus und eine Hochburg der CHP, die in keiner anderen Großstadt den Oberbürgermeister stellt. "Das ungläubige Izmir" nannte man sie früher, ein Name, den auch Anhänger der AKP gerne benutzen.

CHP ist die Partei der Unternehmer und Gewerkschaften

Dabei war die Stadt in den 80er- und 90er-Jahren noch fest in der Hand der Mitte-rechts-Partei, von Çillers DYP und Turgut Özals Mutterlandspartei. Von der Erosion dieser Parteien zu Beginn dieses Jahrtausends profitierte die AKP, die ihr Stimmpotenzial verdreifachen konnte. Doch das säkulare, bürgerliche Milieu in den Großstädten wanderte zur CHP. Unter den alteingesessenen Unternehmern ist sie jetzt die beliebteste Partei.

Und das dürfte sich bei dieser Wahl noch weiter steigern. Denn die Polarisierung der Gesellschaft, mit der Erdogan das Land regiert, stößt in Unternehmerkreisen auf Widerwillen. Aber einen namhaften Unternehmer zu finden, der seine Kritik öffentlich äußert, ist fast unmöglich. Auch der Mittfünfziger, der in Izmir einen mittelständischen Familienbetrieb leitet und in seinem Büro zum Gespräch bittet, stellt die Bedingung, nicht namentlich genannt zu werden. "Die AKP hat wirtschaftliche Erfolge vorzuweisen", sagt er. "Sie hat viel für die Infrastruktur getan. Aber ich kann keine Partei unterstützen, die ein Feind der säkularen Gesellschaft ist." Früher habe er die Mutterlandspartei gewählt, heute die CHP.

Dass die meisten Gewerkschaftler mit der CHP sympathisieren – neben einem kleineren, der es mit der prokurdisch-linken HDP hält –, ist für diesen Firmenchef nicht weiter von Belang. Einige Punkte des CHP-Wirtschaftsprogramms findet er "interessant", allen voran das Großprojekt "Zentrum Istanbul", ein Logistik- und Produktionszentrum samt einer dazugehörigen Stadt, das die CHP an einem bislang nicht genannten Ort in Zentralanatolien aus dem Boden stampfen will.

Dass die CHP den gesetzlichen Mindestlohn um ein Drittel auf umgerechnet 500 Euro anheben will, erscheint ihm hingegen "voreilig". Aber wichtiger ist ihm etwas anderes: "Ich will auch künftig an der Uferpromenade von Izmir meinen Raki trinken können. Und ich will nicht, dass jemand meine Enkeltöchter dazu zwingt, Kopftuch zu tragen. Ich wähle die Partei Atatürks."

Erdogans Aufschwung auf Pump

Ob die CHP heute noch für Etatismus steht, eine der sechs Prinzipien, die sie immer noch in ihrem Parteilogo mit den sechs Pfeilen trägt? "Ich stehe für eine moderne Interpretation Atatürks", sagt Sayek-Böke. Selbst die wirtschaftlichen Erfolge der AKP – Wachstumsraten von bis zehn Prozent, ein ums Dreifache gestiegenes Pro-Kopf-Einkommen – will sie nicht unwidersprochen lassen: Der Boom sei auf Kosten der Lohnabhängigen gegangen.

Tatsächlich arbeiten knapp 5,5 Millionen Menschen derzeit für den Mindestlohn. Dabei handelt es sich keineswegs nur um ungelernte Arbeitskräfte. Der Boom der vergangenen Jahre war tatsächlich einer auf Pump: Zwar hat sich der Staat weiter entschuldet, dafür haben die türkischen Unternehmen 180 Milliarden US-Dollar Schulden angehäuft, und die privaten Haushalte stehen mit fast genauso viel in der Kreide. Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei elf Prozent, die Türkische Lira verliert seit Anfang des Jahres an Wert, und das Wachstum betrug zuletzt nur noch 2,9 Prozent.

"Für ein Schwellenland wie die Türkei ist das viel zu wenig", sagt Sayek-Böke. "Der Boom der letzten Jahre war getragen vom Bauboom", sagt sie. "Die Türkei muss aber endlich eine exportorientierte und zugleich sozial- und umweltverträgliche Industrie aufbauen. Wir können das als Regierung nicht machen, aber wir können dafür die Rahmenbedingungen schaffen und durch Investitionen das Wachstum beflügeln." Doch, es klingt sehr sozialdemokratisch.