n-tv, 06.06.2015

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Wahlkampf in Südostanatolien

Eine Deutsche kandidiert in der Türkei

Von Nadja Kriewald, Diyarbakir

Trotz der Anschläge auf ihre Wahlbüros: Am meisten Angst hat die kurdische Partei HDP vor Wahlfälschungen. Die in Celle geborene Feleknaz Uca ist dennoch zuversichtlich: Sie will für die HDP ins türkische Parlament.

Flugblätter verteilen, Hände schütteln und immer wieder lächeln. Feleknaz Uca kämpft um jede Stimme. Die Deutschtürkin kandidiert für das linksliberale kurdische Parteienbündnis HDP im südostanatolischen Diyarbakir. "Noch ein Foto mit meiner kleinen Tochter", bittet eine Frau mit Kopftuch. Uca hockt sich neben den Kinderwagen und lächelt. Sie selbst hat die langen schwarzen Haare zum straffen Zopf geflochten, trägt einen dunklen Hosenanzug. Die 38-Jährige ist in Deutschland geboren, in Celle, sie hat beide Staatsbürgerschaften. In die Heimat ihrer Eltern ist sie gekommen, weil sich etwas ändern muss im Land, sagt sie.

Feleknaz Uca ist optimistisch: "Wir haben schon jetzt mehr als 10 Prozent - in Umfragen liegen wir bei 12 bis 14 Prozent." Wenn die HDP, die Demokratische Partei der Völker, tatsächlich die Zehn-Prozent-Hürde überspringen sollte und ins Parlament einzieht, dann bekommt die Regierungspartei AKP nicht die absolute Mehrheit. Und Präsident Recep Tayyip Erdoğan kann die Verfassungsänderung zum Präsidialsystem nicht durchsetzen.

Deshalb würden die AKP und Erdoğan alles versuchen, um das zu verhindern, sagt Uca. "Es gibt Drohungen, mehr als 65 Wahlbüros von uns sind zerstört worden. Dann die Bombenanschläge in Mersin und in Adana." Verletzte und sogar ein toter Fahrer in Bingöl. Am Freitag, nach unserem Besuch in Diyarbakir, kamen bei einem Anschlag auf eine HDP-Kundgebung mindestens zwei Menschen ums Leben, mehr als hundert wurden verletzt.

Doch am meisten Angst haben sie hier vor massiven Wahlfälschungen. Ein Whistleblower, der unter dem Pseudonym "Fuat Avni" twittert, hat 40 Seiten mit Namen von AKP-Leuten veröffentlicht, die in den Wahllokalen betrügen sollen, angeblich im Auftrag der Regierung. Vor allem Stimmen der HDP sollen entfernt werden. Alle Parteien haben deshalb ihre Wahlbeobachter in den Wahlbüros.

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"Wir haben überall unsere ehrenamtlichen Freunde an den Wahlurnen, die sollen die Wahlurnen schützen", sagt Uca. "Und falls angeblich wieder Katzen die Trafos lahm legen und für Stromausfälle sorgen, haben sie Taschenlampen und Kerzen dabei." Bei den vergangenen Wahlen hat es landesweit mehr als 60 Stromausfälle gegeben.
"Jeden Tag kommen die Leichen der Märtyrer"

Dann zieht Feleknaz Uca wieder weiter. Wahlkampf ist für die 38-Jährige nicht neu, sie hat zehn Jahre für die deutsche Linkspartei im Europaparlament gesessen. Doch hier in Südostanatolien ist alles anders. "Von Dorf zu Dorf, von Stadtviertel zu Stadtviertel, von Haus zu Haus wird dieser Wahlkampf durchgeführt. Es gibt manche Tage, an denen wir 15 bis 20 Dörfer besuchen", sagt Uca. "Gestern haben wir einen kurdischen Stammesführer überzeugt - der Mann ist für 1500 Stimmen zuständig."

Die konservativen, streng religiösen Kurden haben bei den letzten Wahlen häufig noch die AKP gewählt, doch seit dem Kampf um Kobane ist das anders. Monatelang war die kurdische Stadt in Syrien von den IS-Terroristen belagert. Von der Türkei gab es keine Unterstützung für Kobane, im Gegenteil, sagt Uca. Die kurdische Jesidin war selbst zweieinhalb Monate im Grenzgebiet, hat sich um Flüchtlinge gekümmert: "Ich habe dort miterlebt, wie die IS-Kämpfer in der Kleidung der türkischen Soldaten über die Grenze gegangen sind. Für Journalisten und Helfer war alles abgesperrt, nur die IS-Kämpfer kamen immer wieder über die Grenze." Das zeige doch, auf welcher Seite die AKP und Erdoğan stünden, meint Uca.

Der türkische Geheimdienst MIT soll sogar Waffen nach Syrien gebracht haben. Und das, wo fast täglich junge Kurden aus der Türkei im Kampf gegen den IS sterben. "Jeden Tag kommen hier die Leichen der Märtyrer an", sagt Uca. "Der Kampf um Kobane ist noch nicht vorbei. Die Dörfer in der Umgebung sind noch immer belagert." Auch an diesem Tag findet wieder eine Beerdigung statt - zwei junge kurdische Kämpfer, gefallen im Kampf gegen IS-Terroristen.

Während die Männer beten, bleibt Feleknaz Uca bei den Frauen, umarmt die Mütter und eine Witwe. Nur vier Monate war sie verheiratet. Die Menschen hier erwarten, dass die Politiker zur Beerdigung kommen. Dann setzt sich der Trauerzug mit den beiden Särgen in Bewegung. Hunderte sind gekommen, halten Bilder der beiden Toten hoch. "Märtyrer sind unsterblich", ruft die Menge.
Dann ist Uca doch die Deutsche

"Überall stehen hier Zivilpolizisten", sagt Uca. Die würden nur darauf warten, dass es zu Unruhen kommt. Aber alles bleibt ruhig. Als die kurdische Hymne am Ende ertönt, strecken selbst alte Männer und Frauen in der sengenden Hitze die rechte Hand mit dem Victory-Zeichen hoch.

"Die AKP hat bis heute noch nicht den IS als terroristische Organisation eingestuft", sagt Uca, "obwohl sie morden und töten, Frauen verschleppen und auf den Märkten verkaufen." Nur ein paar hundert Kilometer von Diyarbakir entfernt, in Syrien oder im Irak. Feleknaz Uca hat die Beerdigung mitgenommen. Doch der Tag ist noch lange nicht vorbei.

Es geht zurück zum HDP-Büro. Davor hängen die bunten Parteifähnchen mit dem Baum. An der Außenfassade ein großes Plakat mit den beiden Parteivorsitzenden. Selahattin Demirtaş ist der Star der Partei. Bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr hat der 42-Jährige aus dem Stand 9,8 Prozent der Stimmen geholt, obwohl die HDP der verbotenen PKK nahesteht. In den Gängen hängen Fotos von PKK-Führer Abdullah Öcalan, der noch immer in Haft ist.

"Abdullah Öcalan ist eine Hoffnungsfigur für diese Menschen hier im Land geworden", sagt Uca. "Er hat es geschafft, dass es kein Blutvergießen in den letzten zwei Jahren gegeben hat zwischen kurdischen Freiheitskämpfern und den türkischen Soldaten in diesem Lande."

Das sehen viele Türken anders. Dennoch: Hier in Diyarbakir wollen sie den Frieden. Jahrzehntelang herrschte Ausnahmezustand. Und noch immer sieht man in den Straßen viel Polizei. Keine normalen Einsatzwagen, sondern Panzerfahrzeuge. "Seit 30 Jahren haben wir hier einen Kampf, sagt ein Passant. "Wenn die HDP nicht ins Parlament kommt, dann wird das alles wieder losgehen. Dann gibt es hier große Probleme."

Einen Rückfall in die alten Zeiten will man sich hier nicht vorstellen. Diyarbakir wirkt modern und offen - vor allem die Frauen. Die Hälfe der HDP-Kandidaten ist weiblich. Eine junge Frau meint: "Ich werde die HDP wählen. Wenn die die Hürde nicht schaffen, wäre das schlimm. Nur die werden den Frieden bringen."

Und dann geht es wieder weiter mit Flugblättern und Trommelmusik. Feleknaz Uca ist in ihrem Element. Mal spricht sie das weiche Türkisch, dann wieder das kehlige Kurdisch. Sie dreht sich irritiert um: "Die haben eben gesagt, dass sie mich mehr lieben als ihre Eltern." Das ist ihr zu viel Pathos. Da ist sie dann doch wieder die Deutsche.