zeit.de, 06.06.2015

http://www.zeit.de/2015/23/tuerkei-wirtschaft-recep-tayyip-erdogan-wahl/komplettansicht

Türkei: Erdoğans Scheinboom

Vor der Wahl lässt der türkische Präsident Tayyip Erdoğan wie verrückt bauen. Die Probleme kann er aber nicht verdecken.

Wirtschaft, Türkei, Präsidentschaftswahl, Recep Tayyip Erdoğan, Türkei

Unterstützer von Tayyip Erdoğan auf einer Wahlkampfveranstaltung | © Reuters

Am Rande Europas herrscht ein Mann, der Brücken über die Meere spannt und Weltregionen durch Kanäle verbindet. Er trägt Berge ab und baut Gebirge aus gigantischen Wolkenkratzern. Der Mann heißt Recep Tayyip Erdoğan. Er ist Präsident der Türkei.

Die Bühne seiner Großtaten ist Istanbul. An dessen Rand liegt Garipçe, ein pittoreskes Fischerdorf am Bosporusausgang zum Schwarzen Meer. Auf einer Anhöhe die Reste einer Festung: Hier lauerten einst osmanische Soldaten auf den Feind. Heute sieht man Tanker und Frachter, die auf Erlaubnis warten, durch den Bosporus zu fahren. Auf der anderen Seite steht ein Monstrum im Meer, weiß, kantig, höher als die Berge: ein Pfeiler der neuen Bosporusbrücke. In zwei Jahren soll sie die Kontinente verbinden. Erdoğans Traum.

Vom Berg bei Garipçe führt eine Sandpiste weiter durch die Hügellandschaft. Das wird die zwölfspurige Autobahn zum neuen Großflughafen. Auch das verschlafene Zekerijaköy soll Anschluss an sie bekommen. Was vor wenigen Jahren noch ein Dorf war, wird umgebaut zu einer Trabantenstadt. Man sieht Neubauten auf den Hügelketten, Baustellen, überall Plakate von Maklern und Baufirmen. Als Europäer staunt man da nur.

Doch der Bauboom ist kein Zeichen des Aufbruchs, sondern eher der Entfremdung von der Wirklichkeit. Die Türkei lahmt, Erdoğans Monumente könnten mit dem Ende des Wirtschaftswunders zusammenfallen. Das Wachstum blieb 2014 mit 2,9 Prozent weit hinter den Erwartungen zurück, die Arbeitslosigkeit liegt bei 11 Prozent, die türkische Lira verlor seit Jahresbeginn ein Fünftel an Wert gegenüber dem amerikanischen Dollar.

Die Türkei galt lange als Liebling der Investoren: ein aufstrebendes Schwellenland mit junger Bevölkerung, dazu demokratisch. Ihre neue Schwäche passt aber ins Bild von Schwellenländern, in denen politische Verwerfungen die Wirtschaft bedrohen. Die Türken wählen am 7. Juni ein neues Parlament. Erdoğan will eine Zweidrittelmehrheit erreichen, um seine Macht als Präsident auszubauen. Er erhielte dann quasidiktatorische Befugnisse, befürchten Kritiker. Der einst angestrebte Beitritt zur EU rückt derweil in die Ferne.

Mit den Megabauten will Erdoğan Stärke zeigen. Doch die vielen Krisensymptome sind nicht zu übersehen. Der Akmerkez ist eine Shoppingmall in Istanbul, die kürzlich renoviert wurde. Malls sind die Kathedralen des türkischen Wirtschaftswunders. In ihnen verbringen viele Familien ihre freien Tage, sie essen, flanieren und kaufen ein. Doch an einem Samstag, eigentlich dem Tag der Konsumkathedralen, ist der Akmerkez fast leer.

Ahmet, Filialleiter einer Boutique, steht gelangweilt in seinem Geschäft. "Heute habe ich immerhin ein T-Shirt verkauft", sagt er ironisch. "Der Kunde zahlt es in drei Monatsraten." Das ist üblich in der Türkei. Schon beim Kauf eines besseren Kugelschreibers wird man nach taksit gefragt – ob man in Raten zahlen möchte. Viele Kunden jonglieren mit einem Dutzend Kreditkarten. So haben die Türken über die Jahre hohe Privatschulden aufgebaut. Während des Booms ging das gut. Nun aber ist das türkische Pro-Kopf-Einkommen erstmals gesunken. Auch das Bezahlen auf Pump funktioniert nicht mehr so leicht, und das spürt der Boutiquebesitzer. Und er ist nicht allein damit.

Über Jahre sonnte sich das Land in dem Gefühl, dass es der EU, die die Türkei kühl zurückwies, schlecht ging, während man selbst ein Wirtschaftswunder erlebte. Dieser Boom ließ die Türkei in die Liga der vielversprechenden Schwellenstaaten aufsteigen. Geld strömte ins Land, allein 2011 waren es 16 Milliarden Dollar an Auslandsinvestitionen. Türkische Unternehmer fuhren mit ihren Geschäftspartnern auf Luxusjachten über den Bosporus. Danach wurden lukrative Exportverträge unterzeichnet. Davon profitierten auch die Verbraucher. Seit Erdoğans Amtsantritt als Premier im Jahr 2003 hat sich das Pro-Kopf-Einkommen der Türken fast verdreifacht, eine neue, kapitalismusgläubige Mittelklasse kam zu unverhofftem Wohlstand. Die Bürger bezogen neue Häuser in Siedlungen mit Zaun und Schlagbaum. Sie speisten in den Bosporus-Restaurants, die besten Fisch, aber keinen Alkohol mehr servierten. Konsum – oft auf Kredit – wurde eine Säule der Wirtschaft. Die Türkei hatte vor einigen Jahren mit fast neun Prozent eine der höchsten Wachstumsraten der Welt. Der Wohlstand war ein Hauptgrund dafür, dass Erdoğan Wahlen gewann.

Was läuft nun falsch in der türkischen Wirtschaft? Am Bosporus liegen mehrere Spitzenuniversitäten, an denen die türkische Elite seit Generationen ausgebildet wird. Refik Erzan leitet die Wirtschaftsfakultät der Bosporus-Universität und erklärt, warum er sich um sein Land Sorgen macht. "Der Konsum lahmt, die Investitionen sind weitgehend zum Erliegen gekommen, und der Export sinkt", sagt er. "Die drei Säulen, auf denen das türkische Wachstum des vergangenen Jahrzehnts fest stand, sind brüchig geworden." Investitionen kämen heute vor allem von der Regierung, die verzweifelt versuche, sich dem Trend entgegenzustemmen. Zugleich aber sei es gerade die politische Polarisierung in Ankara, die alle verunsichere: Erdoğan und seine konservativ-autoritäre AKP gegen Kemalisten, Kurden und Linke. Alle Hoffnungen auf eine Rechtsreform zum Besseren seien enttäuscht worden. Gerichtsurteile fielen zu oft zugunsten von Unternehmern aus, die der Regierung nahestehen. "Transparenz und Berechenbarkeit für Investoren bleiben auf der Strecke."

Ein Kollege von Erzan, der Wirtschaftsprofessor Seyfettin Gürsel von der benachbarten Bahçeşehir-Universität, erläutert die Folgen der Krise. "Unser Land braucht ein hohes Wachstum, um die große Zahl der jungen Leute zu integrieren, die auf den Arbeitsmarkt drängen." Nach OECD-Zahlen hat fast ein Drittel der Türken bis 29 Jahre keine Arbeit. So schlimm ist es noch nicht einmal in manchen Krisenländern der EU. Die Regierung habe die Reform des Arbeitsmarktes verschleppt, kritisiert Gürsel. Das Steuersystem sei ineffizient.

Die Ironie an dieser Kritik ist: In der AKP-Regierung sitzen zwei Minister, die den Experten zustimmen würden, Finanzminister Mehmet Şimşek und der für Wirtschaft zuständige Vizepremier Ali Babacan. Beide fordern seit Langem Reformen und hoffen auf die wahlfreien Jahre nach der Entscheidung am 7. Juni. Bis 2018, sagte Babacan neulich, habe die Türkei die Chance, das Versäumte nachzuholen. Aber dafür braucht es die Einsicht des Präsidenten. Erdoğan sieht vieles anders als seine Ökonomen. Er kennt nur zwei Rezepte gegen die Krise. Erstens drängt er die Zentralbank zur Senkung der Zinsen – bei einer Inflationsrate von schon jetzt acht Prozent. Zweitens lässt er immer weiter bauen.

Noch ist die Autobahn in Istanbuls Norden nicht fertig. Deshalb muss man einen großen Umweg fahren, um zum Gelände des künftigen Großflughafens zu gelangen. Im Stau geht es langsam voran, die Betonhäuser verschwinden, auf einmal nur noch Wald, Wald, Wald. Hier beginnt die grüne Lunge der 12-Millionen-Stadt mit Hügeln, Seen und Sümpfen. Langsam färbt sich der Asphalt weiß vom Sand der Baufahrzeuge. Und dann sieht man die ersten Lkw-Kolonnen, auf mehreren Kilometern stehen Kipper am Straßenrand. Links und rechts der Schnellstraße führen Kieswege in die Wälder, mit Schlagbäumen abgesichert. Wer keine Erlaubnis hat, kommt nicht hinein. Vor allem Journalisten nicht. Aus gutem Grund. Schon das, was man von der Straße sieht, hat die kleine Schar der Umweltschützer in Istanbul zur Verzweiflung gebracht.

In die Wälder werden Zementfabriken gebaut, Schornsteine und Türme überragen die Bäume. Auf dem künftigen Flughafengelände werden Hügelkuppen kahl geschlagen und plattgemacht, Bagger räumen die Erde ab. Hügel, Täler – alles muss eingeebnet werden. Wenn der Flughafen in wenigen Jahren fertig ist, soll er 150 Millionen Passagiere im Jahr abfertigen können, fast dreimal so viel wie heute der Istanbuler Atatürk-Flughafen. Allein 70.000 Parkplätze soll der Airport haben. Und das Wichtigste für Erdoğan: Er soll größer sein als die Flughäfen der Europäer, die "ja nur neidisch" seien. Von Bauprojekten wie diesen profitiert ein Dutzend Firmen. Sie machen wenige Türken reich. Insgesamt aber erziele das Baugewerbe nur fünf Prozent der Wirtschaftsleistung, sagt der Ökonom Erzan. Bauen allein wird die Wirtschaft kaum retten.

Wer nicht zum erlesenen Kreis der Erdoğan-Baulöwen gehört, ist desillusioniert. Ein Beispiel ist ein deutscher Investor, der nach Jahren die Türkei verlassen hat. Er möchte seinen Namen nicht nennen, um seine Geschäftspartner zu schützen. Jahrelang, sagt er, habe die Regierungspartei das meiste richtig gemacht. Sie sei eine "Art türkische CSU" gewesen, wirtschaftlich liberal, mit einem Herz für die kleinen Leute, dazu ein wenig religiös-konservative Folklore. "Damit lebten wir gut."

Der Bruch kam Ende 2013, als in den Medien und im Netz viele Belege für massive Korruption in der Regierung und in der Erdoğan-Familie auftauchten. "Da bekamen die Anleger kalte Füße", sagt der deutsche Unternehmer. Hinzugekommen seien die politischen Verwerfungen: Proteste, die brutal von der Polizei niedergeknüppelt worden seien, Schlägereien im Parlament und jeden Tag die aggressiven Reden von Erdoğan. Die Türkei wirke plötzlich nicht mehr wie ein Ruhepol in einer Region von Krisen und Kriegen, sondern wie ein weiteres Problem. "Das Bauchgefühl stimmt einfach nicht mehr", sagt der deutsche Investor. Die Folge: Das Kapital von außen blieb weg.

So leidet die Türkei unter drei Krisen zugleich: Konsumschwäche, Reformstau und Misstrauen. Erdoğans Baustellen stehen für einen Scheinboom, von dem sich aber immer noch sehr viele Wähler täuschen lassen. Sollte am Sonntag die AKP wiedergewählt werden, womit alle rechnen, würde Erdoğan wohl irgendwann sein drittes Megaprojekt angehen: einen gigantischen Kanal, der das Schwarze und das Marmara-Meer verbinden soll. Er soll den klassischen Bosporus entlasten und reichen Türken viele neue Grundstücke für Landhäuser mit Wasserblick bieten. "Verrücktes Projekt" hat er den Istanbul-Kanal genannt. Kaum ein Türke zweifelt daran, dass es ihm an politischer Verrücktheit für diesen Bau fehle.