Frankfurter Rundschau, 06.06.2015 http://www.fr-online.de/tuerkei/wahl-tuerkei-wache-schieben-an-der-wahlurne,23356680,30887348.html Wahl Türkei: Wache schieben an der Wahlurne Frank Nordhausen, Die Bürgerinitiative Oy ve Ötesi will verhindern, dass die regierende AKP die Wahlen zu ihren Gunsten manipuliert. 120 000 Freiwillige wollen landesweit die Wahllokale überwachen. Als es spannend wurde bei der Auszählung, als die islamisch-konservative Regierungspartei AKP bei den Kommunalwahlen 2014 nur noch auf dem zweiten Platz lag in der türkischen Hauptstadt Ankara, da fiel plötzlich weiträumig der Strom aus. Als er wieder anging, lag die AKP wieder vorn. Energieminister Taner Yildiz erklärte die seltsamen Blackouts später mit einer Katze, die einen Transformator lahmgelegt habe. Ähnliches geschah auch in anderen Städten. Solch unerklärliche Stimmenzuwächse soll es bei der Parlamentswahl am Sonntag nicht mehr geben. Rund 120 000 Freiwillige wollen die Wahllokale landesweit überwachen. Selten waren Wahlen in der Türkei so spannend wie am kommenden Sonntag. Experten sind sich einig, dass wenige Tausend Stimmen über die Zukunft des Landes entscheiden können. Kommt die linke prokurdische HDP über die landesweite ZehnProzent-Hürde, wird die AKP keine verfassungsändernde Mehrheit erhalten, um das autoritäre Präsidialsystem einzuführen, das sich Staatschef Recep Tayyip Erdogan wünscht. „Weil es so knapp ist, ist es so extrem wichtig, Wahlfälschungen auszuschließen“, sagt Kutay Onayli, 21-jähriger Sprecher der Bürgerinitiative Oy ve Ötesi (Stimme und mehr), die in Schnellkursen im ganzen Land neue Freiwillige ausbildet. In den Wahllokalen aller größeren Städte und der besonders umkämpften Regionen will die Gruppe vertreten sein. Das Misstrauen ist so groß
wie nie: Laut Umfragen erwarten 46 Prozent der Türken Unregelmäßigkeiten
bei der Wahl. Um genau das zu verhindern, haben sich Kutay Onayli und
seine 29-jährige Kollegin Selin Kori, die beide in den USA studieren,
Oy ve Ötesi angeschlossen. Sie arbeiten mit zehn anderen jungen Leuten
im Hauptquartier der Gruppe in einem kleinen Büro in der Istanbuler Fußgängerzone.
„Inzwischen haben sich uns 60 000 Freiwillige angeschlossen, und jeden
Tag werden es mehr“, sagt Selin Kori. 100 000 sollen es werden, um die
Hälfte aller Urnen im Blick zu haben. Nach dem türkischen Wahlgesetz dürfen politische Parteien und unabhängige Kandidaten offizielle Beobachter in die Wahllokale entsenden. Oy ve Ötesi bat zahlreiche Parteien um die Akkreditierungskarten, einige erfüllten ihren Wunsch. Die freiwilligen Helfer werden morgens an den Wahllokalen beobachten, wie die Wahlurnen angeliefert werden, und sie werden sie nicht aus den Augen lassen, bis sie spät in der Nacht abgeholt werden. Sie haben das Recht, bei Vorfällen zu protestieren. Onayli hält das Wahlgesetz prinzipiell für gut, doch benachteilige es die Oppositionsparteien an der sensibelsten Schnittstelle: bei der elektronischen Erfassung in den Computern der Wahlbehörde. Um das Manko auszugleichen, sammeln die Freiwilligen in den Wahllokalen beglaubigte Kopien der Auszählungszettel und füttern sie in ihre Computer, die mit einem speziell entwickelten Algorithmus arbeiten, um Abweichungen zu den offiziellen Zahlen zu finden. Oy ve Ötesi ist ein Kind der Gezi-Demokratiebewegung von 2013. Acht junge türkische Akademiker gründeten die Initiative vor den Kommunalwahlen im Folgejahr. „Was uns mit Gezi verbindet, ist der Wunsch nach einer starken Zivilgesellschaft. Unsere Ideologie ist die Demokratie“, sagt Selin Kori. Bei den Kommunalwahlen feierten
sie ihren ersten Erfolg im Istanbuler Bezirk Kagithane. „Dort wurde systematisch
manipuliert, indem Hunderte Stimmen der CHP einfach der AKP zugeschrieben
wurden. Das konnten wir aufdecken“, sagt Kutay Onayli. Aus der Bürgerinitiative
ist inzwischen eine türkei-weite demokratische Bewegung geworden, die
auf größtmöglichen Abstand zu allen politischen Parteien achtet. Wie nötig
das ist, zeigt ein Hetzartikel der regierungsnahen Zeitung „Yeni Safak“,
der am Donnerstag unter der Schlagzeile „Dunkle Affären“ raunte, dass
Oy ve Ötesi aus den USA und Europa finanziert werde – was die Sprecher
verneinen. Die Gefahr droht eher aus dem
eigenen Land. Fuat Avni, ein geheimnisumwitterter Whistleblower aus dem
engsten Führungskreis um Erdogan, schlug zu Wochenanfang auf Twitter Alarm.
Der Präsident wolle mehr als drei Millionen Stimmen manipulieren und so
die AKP-Alleinregierung in Ankara retten. Am Mittwoch twitterte er eine
Liste von 324 AKP-Wahlvorstehern, die er „AK-Diebe“ nennt und die angeblich
den Wahlbetrug in Szene setzen sollen. Den Aktivisten von Oy ve Ötesi
bereitet auch die Auszählung der rund eine Million Stimmen der Auslandstürken
Sorge, die nicht sehr transparent erscheint. „Der einzige Weg, um wirklich
sichere Wahlen zu garantieren, wäre ein Freiwilliger an jeder Wahlurne“,
sagt Kutay Onayli. „Wenn wir das Resultat jeder einzelnen Urne kennen,
ist elektronischer Wahlbetrug ausgeschlossen. Leider sind wir noch nicht
so weit.“
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