welt.de, 05.06.2015

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Opposition macht Erdogan für Anschlag verantwortlich

Bei einer Wahlveranstaltung der pro-kurdischen Partei HDP in der osttürkischen Stadt Diyarbakir ist es zu zwei Explosionen gekommen. Zwei Menschen starben, Dutzende wurden verletzt. Von Deniz Yücel
Protesters attack a van carrying police officers as they clash with riot police after an explosion during an election rally of pro-Kurdish Peoples' Democratic Party (HDP) in Diyarbakir, Turkey
Foto: REUTERS Auf einer Massenveranstaltung der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP gab es Tote und Verletzte

Auf der Kundgebung der Demokratischen Partei der Völker (HDP) in der südostanatolischen Metropole Diyarbakir ist es am frühen Freitagabend zu zwei Explosionen gekommen. Mindestens zwei Menschen starben, mindestens 50, nach örtlichen Quellen sogar über 100 Personen sollen mit Verletzungen in Krankenhäuser eingeliefert worden sein, einige seien im kritischen Zustand. Die Kundgebung, auf der der Co-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas als Hauptredner auftreten sollte, wurde abgesagt.

Nach den Explosionen setzte die Polizei Tränengas ein, um die Menschenmenge auseinander zu treiben. 100.000 bis 300.000 sollen sich zuvor am Kundgebungsplatz aufgehalten haben.

Bei der Parlamentswahl am Sonntag kämpft die prokurdisch-linke HDP um den Einzug (Link: http://www.welt.de/141772265) ins Parlament. Falls sie die Zehnprozenthürde überwindet, gilt es als ziemlich sicher, dass die regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) die absolute Mehrheit verliert.

Wie Augenzeugen berichteten, explodierte zunächst in einem Abfalleimer ein Sprengsatz. In der Menschenmenge brach Aufregung aus, die Leute drängten sich in alle Richtungen, als 30 Meter vor der Bühne ein zweiter, lauterer Sprengsatz detonierte. Die Bomben explodierten kurz bevor Demirtas die Bühne betrat. Lokale Quellen berichteten der "Welt", dass mehrere Menschen Verletzungen durch Metallteilchen aufwiesen, mit denen die zweite Bombe gefüllt gewesen sein soll.

"Die Leute, die das gemacht haben, wollen den Frieden sabotieren"

Ziya Pir hatte zu diesem Zeitpunkt gerade seine Rede beendet. "Ich stand noch auf der Bühne, als ein Parteifreund nach mir sprach", erzählte der aus Duisburg stammende 44-jährige Unternehmer, der auf dem aussichtsreichen Listenplatz 7 in Diyarbakir kandidiert, am Telefon der "Welt".

"Ich hatte in meiner Rede auf etwas hingewiesen, dass es vorher in Diyarbakir nicht gab: Es wehten türkischen Fahnen. Wir hatten auf der Bühne eine gehisst, aber die Leute hatten auch selber welche mitgebracht. Ich habe gesagt, es ist an der Zeit, dass wir diese Fahne, die als Symbol der Unterdrückung benutzt wurde, zu unserer Fahne machen."

Die Menge sei an dieser Stelle in Jubel ausgebrochen, kurz darauf sei es zu den Explosionen gekommen. "Die Leute, die das gemacht haben, wollen den Frieden sabotieren", sagte der hörbar geschockte Pir. "Wer macht so was, wer zündet Bomben in einer Menge voller Kinder und alter Menschen?", fragt er.

Eine eindeutige Antwort hat er nicht. "Aber egal, ob Erdogan oder Davutoglu selbst Hand angelegt haben oder nicht, sie tragen die Verantwortung für diese Tat. Sie haben gegen uns gehetzt und uns zum Abschuss freigegeben."

HDP als Hauptgegner der AKP

Tatsächlich haben sich Politiker der AKP und allen voran Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan die HDP als Hauptgegner gewählt. Sie beschuldigten die HDP, Handlanger der kurdischen Arbeiterpartei PKK zu sein oder beschimpften ihren Vorsitzenden Demirtas als gottlos (Link: http://www.welt.de/140883529) .

Erst am Mittwoch hatte Erdogan auf einer Kundgebung behauptet, dass sich alle verbündet hätten, um die HDP zu unterstützen: die beiden übrigen großen Oppositionsparteien CHP und MHP, die Gülen-Gemeinde, die Mediengruppe Dogan (Link: http://www.welt.de/141139175) , außerdem die "armenische Lobby" und die Homosexuellen.

Auch darum geht Ertugrul Kürkcü, Spitzenkandidat der HDP in Izmir, noch einen Schritt weiter: "Die Absicht hinter diesen Bomben ist eindeutig: Man wollte eine Massenpanik erzeugen, in der die Menschen sich gegenseitig tottrampeln", sagte der 67-jährige, der einst zu den Wortführern der türkischen Studentenbewegung zählte und zu den 30 Abgeordneten gehört, die bereits bei der vergangenen Wahl als nominell unabhängige Kandidaten den Sprung ins Parlament schafften.

Er hat keinen Zweifel daran, dass der Staat verantwortlich ist. "Ich denke nicht, dass die Täter in der regulären Polizei- und Geheimdienststrukturen zu suchen sind. Ich denke aber und sage das offen: Verantwortlich ist Recep Tayyip Erdogan persönlich, ist seine Abteilung für besondere Kriegsführung, ist der alte tiefe Staat, den nun Erdogan kontrolliert." Die Existenz des "Tiefen Staates" und seiner "Strategie der Spannung" ist in der Türkei zumindest historisch belegt (Link: http://www.welt.de/141387489) .

"Unsere Antwort werden wir am Sonntag geben"

Doch die HDP werde, so Kürkcü weiter, nicht den Fehler begehen, jetzt auf die Straße zu gehen, um weitere Auseinandersetzungen zu provozieren. "Dieses Klima wollen wir sie schüren. Aber wir machen da nicht mit. In der Vergangenheit haben sie uns immer wieder auf die Wahlurne verwiesen, jetzt verweisen wir sie auf die Urne. Unsere Antwort werden wir am Sonntag geben."

Ähnlich formulierte es Parteichef Demirtas am Abend in Diyarbakir: "Wir werden uns einen Tag vor der Wahl nicht auf Provokationen einlassen. Ich rufe alle dazu auf, Ruhe zu bewahren und an die Arbeit zurückzukehren", sagte er vor 10.000 Anhängern die sich nach der Auflösung der Kundgebung vor der HDP-Parteizentrale versammelt hatten.

Präsident Erdogan sprach ebenfalls von einer "Provokation" und rief die Bürger auf, nicht zuzulassen, dass sie "das Klima des Friedens und der Brüderlichkeit" im Land störe.

Ministerpräsident Ahmet Davutoglu sagte in einer ersten Redaktion, dass die Hintergründe des Anschlags noch unklar seien. Man werde in kürzester Zeit herausfinden, ob es sich um eine "Explosion in einem Transformator, einen Selbstmordanschlag oder um eine Provokation" gehandelt habe. Derweil wies Energieminister Taner Yildiz die Vermutung zurück, dass es sich bei der Explosion um einen Kurzschluss in einem Transformator gehandelt haben könnte.

In den vergangenen Wochen war es im ganzen Land zu insgesamt 168 Übergriffen auf Einrichtungen und Mitglieder der HDP gekommen, darunter zwei Bombenanschläge auf die Parteibüros in den südtürkischen Metropolen Mersin und Adana. Am Mittwoch wurde im kurdischen Bingöl der Fahrer eines Wahlkampfbusses der HDP in seinem Wagen erschossen. Am Donnerstag stürmten mehrere hundert Leute im nordostanatolischen Erzurum (außerhalb der kurdischen Stammgebiete) eine HDP-Kundgebung.

Ein Wahlkampfbus der HDP wurde von meinem Mob mit Steinen und Knüppeln beworfen. Nachdem der Fahrer die Kontrolle über seinen Wagen verloren hatte, zündete der Mob den Wagen an; der Fahrer entkam nur mit Glück und schwer verletzt. Die Überschrift, mit der der staatliche Fernsehender TRT von dem versuchten Lynchmord berichtete: "Harte Reaktion gegen die Terror unterstützende Reaktion."