welt.de, 07.06.2015

http://www.welt.de/politik/ausland/article142069520/12-Dinge-die-Sie-ueber-die-Tuerkei-Wahl-wissen-muessen.html

12 Dinge, die Sie über die Türkei-Wahl wissen müssen

Die türkische Parlamentswahl könnte ein historisches Wahlergebnis haben. Doch was passiert, wenn die Kurdenpartei an der Zehn-Prozent-Hürde scheitert? Was heißt das für Erdogan? Wir erklären alles. Von Deniz Yücel

Eine Wahlhelferin in Ankara präsentiert den Wahlzettel, auf dem für die Hauptstadt 18 Parteien zur Wahl stehen. Von ihnen haben aber nur vier eine reelle Chance, die Zehn-Prozent-Hürde zu überwinden. 56 Millionen wahlberechtigte Türken entscheiden über 550 Parlamentssitze
Foto: AP Eine Wahlhelferin in Ankara präsentiert den Wahlzettel, auf dem für die Hauptstadt 18 Parteien zur Wahl stehen. Von ihnen haben aber nur vier eine reelle Chance, die Zehn-Prozent-Hürde zu überwinden. 56 Millionen wahlberechtigte Türken entscheiden über 550 Parlamentssitze

1. Worum geht es bei der Parlamentswahl in der Türkei?

Die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), die "islamisch-konservativ" zu nennen man sich in Deutschland angewöhnt hat, könnte erstmals seit 2002 die absolute Mehrheit im Parlament verlieren. Starke Stimmenverluste sind prognostiziert.

2. Welche Parteien haben außerdem Chancen?

Neben der AKP drei der insgesamt 20 Parteien: die Republikanische Volkspartei (CHP, kemalistisch-sozialdemokratisch), die Partei der Nationalistischen Bewegung (ultranationalistisch) und die Demokratische Partei der Völker (HDP, prokurdisch-links).

3. Wie sind die Umfragen?

Weit auseinander. Das liegt daran, dass die meisten Institute ihren Auftraggebern genehme Ergebnisse veröffentlichen – manche bescheinigen der AKP Ergebnisse von knapp 50 Prozent. Die letzten Umfragewerte des als seriös geltenden Instituts Gezici lauten in Prozentpunkten: AKP 38–39, CHP 28–29, MHP 16–17, HDP 12–13.

4. Was heißt das für die Sitzverteilung?

Die hängt davon ab, ob die HDP die Zehnprozenthürde überspringt – die alles entscheidende Frage des Tages.

5. Echt jetzt, Zehn-Prozent-Hürde?

Ja. Die höchste Hürde der Welt. Von den Putschisten 1982 in die Verfassung geschrieben, von der AKP 2010 beim Referendum zur Verfassungsreform unangetastet. Diese Hürde hat großen Anteil am Aufstieg der AKP: 2002 erhielt sie nur wenig mehr als ein Drittel der Stimmen, verfehlte aber im Parlament nur um eine Stimme die verfassunggebende Zweidrittelmehrheit. In der damals arg fragmentierten Parteienlandschaft blieben 46,3 Prozent der Stimmen nicht im Parlament repräsentiert. Bei den folgenden Wahlen 2007 und 2011 wiederholte sich dies nicht mehr; die AKP errang da 46,6 beziehungsweise 49,8 Prozent der Wählerstimmen.

6. Wer würde davon profitieren, wenn die HDP an der Hürde scheitert?

Eindeutig die AKP. Sie könnte dann die absolute Mehrheit erringen. Sehr unwahrscheinlich, aber immerhin möglich ist auch eine verfassungsverändernde Zweidrittelmehrheit der Parlamentssitze für die AKP, die dann eine sogenannte Präsidialrepublik schaffen könnte, die dem Präsidenten noch mehr Macht garantieren würde. Die HDP wird die meisten Stimmen in den kurdischen Gebieten im Osten und Südosten des Landes bekommen. Dort aber konkurriert sie nur mit der AKP; alle übrigen Parteien spielen keine Rolle. Das heißt auch: Die AKP ist die einzige Partei, die überall, außer vielleicht in der alevitisch-kurdischen Provinz Tunceli, gewählt wird – die einzige Volkspartei des Landes.

7. Klingt kompliziert. Ein Beispiel?

In der Provinz Diyarbakir, der bevölkerungsreichsten kurdischen Provinz, sind rund 860.000 Wahlberechtigte dazu aufgerufen, elf Abgeordnete zu wählen. Die HDP dürfte davon sechs bis acht bekommen, die AKP drei bis fünf. Falls die HDP jedoch landesweit an der Zehnprozenthürde scheitert, dürften sämtliche elf Mandate für Diyarbakir an die AKP gehen. Prognosen gehen davon aus, dass das Scheitern der HDP am Ende für die AKP 50 bis 60 Mandate mehr bedeuten könnte – mithin der entscheidende Unterschied.

8. Ist die HDP nicht bislang schon im Parlament vertreten?

Ja, mit 30 Abgeordneten. Allerdings traten die prokurdischen Bewerber bei den letzten Wahlen als nominell unabhängige Kandidaten an und schlossen sich hinterher zu einer Parlamentsgruppe zusammen. Diesmal hat die HDP wie die übrigen Parteien auch Parteienlisten aufgestellt und rechnet sich 60 bis 70 Mandate aus. 2002, das letzte Mal, als eine ihrer zahlreichen Vorgängerparteien mit eigenen Listen antrat, landete diese bei 6,2 Prozent. Allerdings versucht die HDP diesmal, sich als gesamttürkische Alternative zu präsentieren (Link: http://www.welt.de/141772265) und nicht allein als Vertreterin der kurdischen Sache.

8. Hat das Wahlsystem weitere Schwächen?

Oh ja. Die 550 Parlamentssitze werden nach einem vorher festgelegten Schlüssel auf die 81 Provinzen verteilt. Die Wähler wählen allein diese Listen für ihre Provinz. Ein System von Erst- und Zweitstimmen gibt es nicht, auch keine Überhangmandate. Das Zählverfahren, das D'Hondt-Verfahren, benachteiligt kleinere Parteien. Hinzu kommt, dass die für einen Sitz notwendige Anzahl von Stimmen stark variiert. Die meisten Stimmen für einen Sitz braucht man in der westtürkischen Metropole Izmir, einer CHP-Hochburg (Link: http://www.welt.de/politik/ausland/article141956960/Atatuerks-Partei-Mit-Frauen-zurueck-an-die-Macht.html%C2%A0) (118.669), die wenigsten im nordwesttürkischen Bayburt (27.089). Diese Verteilung der Mandate bevorteilt die bevölkerungsärmeren Provinzen im Osten und Norden gegenüber den Großstädten. Davon profitieren dürften ebenfalls die AKP und, sofern sie reinkommt, die HDP.

9. Was passiert mit den Stimmen aus dem Ausland?

Die 2,8 Millionen türkischen Staatsbürger, die in 112 Wahlbüros in 54 Ländern (Link: http://www.welt.de/politik/deutschland/article141706702/Deutschtuerken-kaempfen-gegen-weiteren-Wahlbetrug.html%C2%A0) sowie an insgesamt 33 Grenzübergängen sowie Flug- und Seehäfen wählen konnten, wählen keine eigenen Abgeordneten. Ihre Stimmen fließen aber ins Gesamtergebnis ein. Das einzige Land, in dem eine nennenswerte Zahl türkischer Staatsbürger lebt, ohne dass dort Wahlbüros eingerichtet worden wären, war der Irak, wie der Grenzübergang zum Irak auch der einzige eigentlich geöffnete Grenzübergang war, an dem man nicht wählen konnte. Die offizielle Begründung: Sicherheitsprobleme. Die Vermutung von Kritikern: Die weitaus meisten türkischen Staatsbürger im Irak sind kurdischer Abstammung, ihre Stimmen wären größtenteils an die HDP gegangen.

10. Welche Rolle spielt Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan?

Eine, die er als Staatspräsident laut Verfassung gar nicht spielen dürfte: die des obersten Wahlkämpfers (Link: http://www.welt.de/140746001) für die AKP. In den vergangenen Wochen hat er jeden Tag mindestens eine Kundgebung abgehalten (Link: http://www.welt.de/141707165) , die von etlichen Fernsehsendern ausführlich oder gar live übertragen wurde. Sein ursprüngliches Ziel, eine verfassunggebende Mehrheit für die AKP und der Übergang zu einem Präsidialsystem, ist in weite Ferne gerückt. Dennoch hat er in vielen Reden davon geschwärmt – im Gegensatz zu Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, der nie auch nur ein Wort dazu verlor. Selahattin Demirtas, der Co-Vorsitzende der HDP, hat Davutoglu darum schon aufgefordert, die HDP zu wählen, schließlich wolle er ja auch kein Präsidialsystem.

11. Wann ist mit ersten belastbaren Ergebnissen zu rechnen?

Ab 22, 23 Uhr MEZ. Ohne Gewähr.

12. Und wird alles mit rechten Dingen zugehen?

Inschallah – so Gott will.