zeit.de, 07.06.2015

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Ruhe aus Trotz

Ein Anschlag auf eine kurdische Wahlkampfveranstaltung, Hetze gegen Presse und Gegner: Der türkische Wahlkampf war brutal. Aber es gibt auch eine hoffnungsvolle Seite. von Özlem Topçu, Diyarbakır

Noch sind die Wahllokale geöffnet und keine Ergebnisse bekannt, aber schon jetzt ist dieses Land verändert durch diese Wahl, durch diesen Wahlkampf.

Man könnte an einem Tag wie diesem viel darüber erzählen, was alles schief läuft in diesem Land. Darüber etwa, dass der Staatspräsident live im Fernsehen Journalisten bedroht, weil sie ihre Arbeit machen. Die Zeitung Cumhuriyet veröffentlichte Bilder von LKWs voller Waffen, begleitet von Geheimdienstleuten, die auf dem Weg nach Syrien gewesen sein sollen. Adressat unklar. Staatspräsident Erdoğan sagte in der vergangenen Woche, dass der Chefredakteur der Cumhuriyet, Can Dündar, einen hohen Preis für die Veröffentlichung zahlen werde. Erdoğans Argument: die USA würden schließlich auch Bradley Manning, und Edward Snowden wegen Geheimnisverrat anklagen, das sei das gute Recht von Staaten. Kein Wort darüber, dass die beiden Bedienstete des Staates waren und nicht Journalisten, wie Dündar.

Man könnte sich heute auch über die Härte im Wahlkampf empören, über den Einsatz von Islam und Koran am Rednerpult. Über Verdächtigungen. Sehr oft fiel das Wort "parallel" – mit dem "parallelen Staat" ist die Bewegung des Religionsgelehrten Fetullah Gülen gemeint. Einst waren Gülen und Erdoğan Verbündete. Jetzt bekriegen sie sich. Mittlerweile verwendet die AKP den Begriff "parallel" für die gesamte Opposition. Premierminister Ahmet Davutoğlu sagte kürzlich auf einer Wahlkampfveranstaltung: "CHP, MHP, HDP, das parallele Gebilde, Kandil und die DHKP-C haben eine Front gebildet, um die AKP aufzuhalten!", mit Verschwörungen und Fallen.

Die linksnationalistische DHKP-C züchtet keine Gänseblümchen, sondern ist ein militante Gruppierung, die kürzlich einen Staatsanwalt ermordet hat (einige glauben auch: Sie ist Instrument des "tiefen Staates"). Aber zu behaupten, dass jetzt alle "parallel" sind, nur weil sie nicht AKP sind, trägt nicht gerade dazu bei, dass sich der Blutdruck im Land senkt.

Man könnte auch noch einmal daran erinnern, dass Kandidaten angegriffen worden sind, und zwar aller Parteien. Aber am häufigsten und heftigsten mussten die Kandidaten und Anhänger der prokurdischen HDP leiden. Mehr als 120 Angriffe auf Parteibüros hat es seit Beginn des Wahlkampfes gegeben. Zuletzt gingen am Freitag bei der Abschlusskundgebung der Partei in Diyarbakır zwei Sprengsätze hoch, es gab Hunderte Verletzte, viele schwer. Mehrere Personen haben ihre Beine verloren. Zwei Menschen sind gestorben. Die Bomben wurden mit Mobiltelefonen ferngesteuert gezündet.

Über all diese Eskalationen und Probleme könnte man ausschweifend erzählen, man muss es auch. Man kann und sollte aber auch etwas anderes erzählen, die andere Seite zeigen. Dass dieser Wahlkampf Wortschöpfungen wie "Inadına barış", "Frieden aus Trotz" hervorgebracht hat.

Oder von dem Tweet einer jungen unbekannten Frau, die nach dem Angriff in Diyarbakır schrieb: "Ich bin Türkin, Anhängerin Atatürks, die Tochter eines Offiziers. Ich sage es mit Stolz: Meine Stimme bekommt der Mann mit der Laute, der alle zur Ruhe aufruft, nachdem Menschen ermordet wurden." Gemeint ist Selahattin Demirtaş, der Co-Vorsitzende der HDP und die Hoffnung nicht nur vieler Kurden auf eine andere Art der Politik. Er hatte in einer Rede nach dem Anschlag die Gemüter beruhigt.

Mitten in der Brutalität dieses Wahlkampfes ist auch etwas anderes gewachsen: der Wunsch nach Ruhe, nach rhetorischer Abrüstung, und nach einer Politik, die nicht überall Feinde sieht. Sondern Gemeinschaft. Nicht nur zwischen Türken und Kurden, sondern zwischen allen, die in diesem von Konflikten so zerrüttendem Land leben.

Man sollte also auch reden von den Verletzten im Krankenhaus in Diyarbakır, die mit verbundenen Beinen, nur Stunden nach ihrer Operation, schon darüber nachdenken, wie sie dennoch ihre Stimme abgeben können. "Meine Verletzungen sollen doch nicht umsonst sein", sagt einer von ihnen.

An diesem Wahlmorgen in Diyarbakır, der "Hauptstadt" der Kurden in der Türkei, herrscht eine absurde Stille. Gestern Abend waren die Autokorsos noch lang und laut, das Gehupe wild. Jetzt hört man nur noch Hin und wieder die Stimmen einzelner, die "Biji Apo!", "Es lebe Apo!" (gemeint ist der inhaftierte PKK-Führer Abdullah Öcalan) schreiend über die Kreuzung laufen. Aber niemand reagiert. Im Zentrum der Stadt stehen die Wasserwerfer und gepanzerten Fahrzeuge der Polizei. Die Kurden sind wohl eine der organisiertesten und mobilisierungsfähigsten Gesellschaften der Welt. Das gilt für Demonstrationen, für die Arbeit in Parteien und für Menschenketten. Aber anscheinend auch für Ruhe.

Es herrscht am Wahltag eine trotzige Stille hier, ein trotziger Frieden. Ob das so bleibt wenn am Abend die Wahlergebnisse bekannt werden, kann allerdings niemand sagen.

Özlem Topçu ist normalerweise Politik-Redakteurin bei der ZEIT. Derzeit ist sie Fellow der Mercator-Stiftung am Istanbul Policy Center und schreibt auf ZEIT ONLINE über Politik und Leben in der Türkei. | © Jakob Börner