welt.de, 07.06.2015

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"Wir werden Erdogan zum Teufel jagen!"

Die türkische Regierungspartei AKP erlebt erstmals eine schwere Niederlage. Die Kurdenpartei HDP schafft den Sprung ins Parlament, rechnerisch könnten die Oppositionsparteien regieren. Von Boris Kalnoky, Deniz Yücel

Als Selahattin Demirtas, Chef der Kurdenpartei HDP, den Raum betritt, feiern die Journalisten ihn wie einen Rockstar. Wahrscheinlich nur die kurdischen, aber das scheinen die meisten zu sein. Es dauert Minuten, bis sich das Klatschen, Trillern und Skandieren legt: "Wir sind die HDP, wir sind im Parlament!"

Randvoll ist der Saal im Istanbuler Lokal "Cevayir", schon eine halbe Stunde vor Beginn der Pressekonferenz wurde niemand mehr hereingelassen, kein Platz, und ein wenig fühlt es sich an, als habe hier der neue Präsident der Türkei seinen ersten Auftritt, nicht der Chef einer 13-Prozent-Partei.

So viel hat die HDP erhalten, aber diese 13 Prozent haben es in sich. Noch vor wenigen Monaten hätte kaum jemand gewettet, dass die Kurdenpartei die undemokratische Zehnprozenthürde überwinden kann. Genau das aber ist gelungen, und nun brechen diese 13 Prozent die Mehrheit der Regierungspartei AKP im Parlament. Sie brechen vielleicht noch viel mehr, den ganzen Geist oder Ungeist der immer starreren, autoritären Weltsicht der bisherigen Führung um Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan.

Die AKP ist mit etwas über 40 Prozent immer noch die stärkste Partei des Landes, aber vor vier Jahren waren es fast 50 Prozent. Es ist ihr erster schwerer Einbruch, seit sie 2001 an die Macht kam. Demirtas erklärt sie an diesem Abend schlicht für tot. "Erdogans Pläne für ein Präsidialsystem in der Türkei sind zu Ende", sagt er, und überhaupt die Zeit der AKP-Dominanz. Die Partei hat nun deutlich weniger als die erforderlichen 276 Abgeordneten für eine Regierungsmehrheit. Und Demirtas verspricht, mit jeder anderen Partei über eine Koalition nachdenken zu wollen, "die bereit ist, die Rechte der Kurden als Thema anzugehen" – nur nicht mit der AKP.

Die Gezi-Park-Proteste brachten die Wende

Da hat sich einiges geändert seit zwei Jahren, damals war von der HDP noch zu hören, Erdogan und der inhaftierte PKK-Chef Abdullah Öcalan seien "zwei starke Führer", mit denen sich eine Aussöhnung zwischen Türken und Kurden durchsetzen lasse. Ein Präsidialsystem sei denkbar, wenn es "demokratisch" sei und regionale Selbstverwaltung stärke. Ein "Friedensprozess" schien in Gang, die HDP und Erdogan denkbare Verbündete.

Aber dann kamen die Gezi-Park-Proteste, als Millionen gegen den autoritären Charakter der Regierung aufbegehrten. Es folgten deren brutale Niederschlagung und Erdogans 1150-Zimmer-Prunkpalast ohne Baugenehmigung, der ihm zufolge nötig wurde, weil im alten "Kakerlaken" gewesen seien. Es folgten die Enthüllungen über Regierungskorruption und das zynische Stillhalten Ankaras, als die Kurden im syrischen Kobani um ein Haar ausgelöscht wurden. Mit Erdogan, das ist heute Abend klar, geht für die HDP gar nichts mehr.

"Meine Freunde, wir haben diesen unglaublichen Erfolg errungen, obwohl es kein fairer Wahlkampf war", sagt Demirtas. Und tatsächlich – wie sähe das Ergebnis wohl aus, wenn die Türkei ein Land mit echter Medienfreiheit wäre? Die staatlich dominierten Medien, besonders das Fernsehen, hatten vor allem Wahlpropaganda für die Regierungspartei betrieben und die Opposition verteufelt. Die Regierung hatte aus unerschöpflichen Geldquellen flächendeckend einen quasi industriellen Wahlkampf finanziert.

Die HDP finanzierte ihre Kampagne aus Spenden und Freiwilligeneinsätzen. Und sie verdankt vor allem einer kleinen Schicht von Wählern sehr viel, die für die Kurdenpartei stimmten, obwohl sie selbst keine Kurden sind. Bürger wie der Literaturübersetzer Adnan im Istanbuler Stadtteil Beyoglu. "Wir haben Hoffnung", sagte er, als er wählen ging. Hoffnung, dass die HDP die AKP-Herrschaft durch ihren Einzug ins Parlament brechen kann.

Es war die Hoffnung der Türken, dass die Kurden sie retten könnten. Bevor es zu spät ist, bevor das Volk freiwillig eine Diktatur wählt. Dem entsprach die Hoffnung der Kurden, dass jene Türken sie retten können, die auch eine bessere Welt des Miteinanders wollen.

"Wir alle sind HDP, wir alle ins Parlament"

Es ist ein Abend, an dem plötzlich alles möglich scheint. Aber ist es das wirklich? Die AKP ist stärkste Partei, und der berüchtigte Präsidentenberater Yigit Bulut, der Erdogan notfalls "mit der Pistole in der Hand" schützen möchte, meldet sich bald zu Wort und deutet an, dass die AKP eine Minderheitsregierung bilden werde, geduldet von anderen Parteien. Auch Ministerpräsident Ahmet Davutoglu spricht zwar davon, dass das Volk "immer richtig entscheidet", sagt aber auch, dass keine Rede sein könne von einer Niederlage seiner Partei.

Duldung für eine Minderheitsregierung der AKP, das wird es mit der HDP nicht geben, so viel wird nach Demirtas' Pressekonferenz klar, und auch nicht mit der stärksten Oppositionskraft CHP (sie liegt nach vorläufigen Ergebnissen bei 25 Prozent).

Bleibt die nationalistische MHP, die etwas mehr als 16 Prozent erzielt, eine leichte Verbesserung. In deren Bezirksbüro im Istanbuler Stadtteil Besiktas will Ortsleiter Tuncay Burusuk mit den Kurden nichts zu tun haben: Wir sprechen nicht mit denen. Auf die Frage, ob denn eine Zusammenarbeit mit der AKP denkbar sei oder mit der HDP, weicht Parlamentskandidatin Füsun Kayan Ardaman aus. Auf Listenplatz zehn ist sie wohl tatsächlich gewählt.

"Es ist zu früh, um darüber zu sprechen", meint sie auf die Frage nach einer Kooperation mit der AKP. Beide Parteien prägt ein nationalistischer Ton, und Teile der MHP-Wählerschaft sind, wie bei der AKP, durchaus fromme Muslime. Nur ist die Ablehnung der Kurden viel stärker bei der MHP. Und dennoch. Eine Koalition mit der HDP, das gehöre zu den Dingen, die die Parteichefs entscheiden müssen, meint sie. Rechnerisch haben MHP, CHP und HDP eine Regierungsmehrheit: Rund 290 Abgeordnete. Wenn sie nur wollen, ist die AKP-Regierung am Ende.

In der Kurdenmetropole Diyarbakir wird derweil gefeiert. Hupend, singend und Fahnen schwenkend strömen Tausende vor der HDP-Zentrale zusammen, Feuerwerkskörper fliegen. "Wir alle sind HDP, wir alle ins Parlament", skandiert die Menge. Außerdem: "Mörder Erdogan" und "Es lebe Öcalan!".

Wir werden die Demokratie ins Land bringen

Nach den ersten Zahlen hat die HDP in Diyarbakir zehn von elf Sitzen errungen, womit auch der Duisburger Unternehmer Ziya Pir und die ehemalige Europaabgeordnete der Linkspartei, Feleknas Uca, künftig dem Parlament angehören werden.

Kein Wunder, dass alle Versuche von Verantwortlichen der Partei, die Menge zu beruhigen ("Freunde, Genossen, bitte bleibt besonnen"), vergebens bleiben. "Auf diesen Tag warten wir seit hundert Jahren. Wir werden die Demokratie ins Land bringen - und nicht für uns Kurden, sagt Serkan Aslan, ein smarter Unternehmer Anfang 30 und stellvertretender Parteichef in Diyarbakir, zur "Welt". "Wir werden Tayyip zum Teufel jagen", ruft ein Parteifreund dazwischen. Dann verschwinden sie in die Nacht.

Die hat in Diyarbakir gerade erst angefangen. Dabei ist die Party eigentlich erst für morgen angesetzt.