spiegel.de, 07.06.2015

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Parlamentswahl in der Türkei: Die kurdische Sensation

Von Hasnain Kazim, Istanbul

Sie feiert ihr historisches Wahlergebnis: Die prokurdische HDP zieht ins türkische Parlament ein - und nimmt der AKP die Regierungsmehrheit. Jetzt muss Präsident Erdogan zeigen, ob er verstanden hat, wie Demokratie funktioniert.

Demokratie bedeutete für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan bislang, dass alle vier Jahre Wahlen abgehalten werden. Ansonsten hatte das Volk nicht viel zu melden.

Jede Kritik wurde abgebügelt, jeder Widerspruch als Feindschaft ausgelegt. Kritische Journalisten verloren ihren Job, Ermittler, die Korruptionsvorwürfen gegen Erdogan nachgingen, wurden entlassen oder versetzt, Demonstranten wurden mit Tränengas fortgejagt, selbst wenn sie friedlich protestierten.

Erdogan interpretierte die Tatsache, dass die Mehrheit der Türken hinter ihm stand - und immer noch hinter ihm steht -, als Freifahrtschein, zu tun und zu lassen, was er will. Sein viel kritisierter Tausend-Zimmer-Palast, den er jetzt auch noch damit rechtfertigte, dass im alten Präsidentensitz zu viele Kakerlaken waren, stand architektonisch für den Konflikt: Erdogan sieht darin einen würdigen Amtssitz, repräsentativ und modern. Seine Kritiker halten den Bau für protzig, teuer und peinlich. Abgesehen davon war der Palast über Gesetze und Gerichtsurteile hinweg in einem Naturschutzgebiet gebaut worden. (Lesen Sie hier mehr zu dem Streit um das Bauwerk.)

Die Wähler in der Türkei haben am Sonntag entschieden: Sie sind, einerseits, mehrheitlich zufrieden mit der Arbeit der Regierung, denn mit großem Abstand wurde die AKP laut vorläufigem Ergebnis mit 40,9 Prozent stärkste Kraft. Die größte Oppositionspartei, die CHP, liegt mit 25,2 Prozent weit abgeschlagen auf dem zweiten Platz. Sie ist der Schatten einer Opposition. Als Premierminister hat Erdogan, das muss man ihm zugutehalten, Demokratiereformen durchgesetzt und die Türkei wirtschaftlich vorangebracht, jedenfalls in seinen ersten Jahren im Amt.

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Parlamentswahl in der Türkei: Wählen, bangen, jubeln
Andererseits hat ein großer Teil des Volkes genug von Erdogans Überheblichkeit, die sich in den zurückliegenden Jahren herausgebildet hat. Der bisherige Erfolg scheint ihm zu Kopf gestiegen zu sein: Vor wenigen Tagen, beim 562. Jahrestag der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen, erklärte er: "Eroberung heißt, in Jerusalem wieder die Fahne des Islam wehen zu lassen." Und: Der 7. Juni, also der Wahltag, werde, "Inschallah", auch eine Eroberung sein. Er zeigte wieder einmal seinen Charakter: kompromisslos, aufbrausend, selbstherrlich.

Wie die Kurden triumphierten

Erstmals in ihrer bislang 13-jährigen Herrschaft ist die AKP jetzt gezwungen, einen Koalitionspartner zu finden. Gelungen ist dieses Kunststück der prokurdischen HDP mit ihrem charismatischen Co-Chef Selahattin Demirtas. Die Partei hat es geschafft, nicht nur Kurden, sondern auch Türken zu überzeugen, die genervt sind von Erdogans Art. Mit 12,7 Prozent nimmt sie deutlich die Zehnprozenthürde. Die AKP kostet das die Regierungsmehrheit.

Das Projekt Präsidialdemokratie, mit dem Erdogan sich selbst per Verfassungsänderung größere Macht zuschustern wollte, ist damit ebenso vom Tisch. Er hatte seine Pläne damit begründet,die Türkei auf diese Weise demokratisch und wirtschaftlich voranbringen zu wollen. Als Beispiel nannte er die USA, wobei er seine Absichten aber nicht weiter konkretisierte.

Wahlbeobachter der OSZE sagten am Abend, die Wahl sei, mit wenigen Ausnahmen, reibungslos und sauber abgelaufen. Kritik übten sie hingegen am Wahlkampf, den die AKP mit ihrer Dauerpräsenz im staatlichen Fernsehen dominiert habe.

Aus übellaunigen AKP-Kreisen hörte man nach Bekanntwerden des Ergebnisses, Koalitionen hätten in der Geschichte der Türkei noch nie funktioniert. Sie seien der Demokratie abträglich. Aber dann muss man zurückfragen: Wann war die Türkei in ihrer Geschichte schon eine Demokratie?

Jetzt hat die Türkei die Chance zu beweisen, dass sie, wichtigstes Land in der Region und trotz aller politischen Turbulenzen ein relativ stabiler Machtfaktor im Nahen und Mittleren Osten, Demokratie verstanden hat. Die Wähler haben den Politikern einen Auftrag erteilt. Er lautet: Redet miteinander, schüttet Gräben zu, setzt euch an einen Tisch, anstatt euch gegenseitig zu beschimpfen! Bildet eine Koalition! Das allerdings bedeutet: Kompromisse, Ausgleich, Berücksichtigung von Minderheitenansichten.

Die AKP könnte, rein rechnerisch, mit allen Parteien eine Verbindung eingehen:

eine große Koalition mit der CHP; das ist aus inhaltlichen Gründen unwahrscheinlich.
ein Bündnis mit der ultrarechten MHP, die 16,5 Prozent erzielte; aber AKP und die Nationalisten haben im selben Revier gejagt und sich darüber heftig zerstritten.
eine Partnerschaft mit der HDP, die im Gegenzug regionale Autonomie für die Kurden erhalten würde; damit würde der kleine Sieger dieser Wahl allerdings all seine Versprechen brechen, keine Koalition mit der AKP einzugehen.
Denkbar wäre auch eine Minderheitsregierung, wie Erdogan vor den Wahlen angedeutet hat; hierzu wäre allerdings einem Bericht der Online-Zeitung "Haberturk" zufolge die Zustimmung der drei anderen Parteien erforderlich.

Gesprächsbereitschaft hieße für die potenziellen Partner aber auch, die AKP nicht zu demütigen, sondern Gemeinsamkeiten zu suchen. Dass die AKP daran interessiert ist, daran bestehen Zweifel.

Am Wahlabend sagte Premierminister Ahmet Davutoglu, AKP-Chef im Schatten Erdogans: "Wir werden uns keiner Macht beugen!" Da hat er offensichtlich nicht genau hingehört, was die Wähler ihm heute mitgeteilt haben.

In der AKP reden sie schon jetzt von Neuwahlen, um "klare Verhältnisse zu schaffen", wie ein Abgeordneter sagt. Das zeigt: Sie haben noch nicht verstanden, dass Demokratie auch Kompromissbereitschaft heißt.