spiegel.de, 08.06.2015

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Regierungsbildung in der Türkei: Opposition lässt Erdogan schmoren

Die Erdogan-Partei AKP hat die absolute Mehrheit verloren - und braucht einen Bündnispartner. Doch niemand will mit ihr koalieren. Steuert die Türkei nun auf Neuwahlen zu? Dies würde das Land in neue Turbulenzen stürzen.

Nach der verheerenden Niederlage der AKP bei den Parlamentswahlen wird mit Spannung auf eine Reaktion von Präsident Recep Tayyip Erdogan gewartet. Doch der Ex-Premier und Staatschef schweigt. Auf seinem Terminkalender stand für Montag kein einziger Programmpunkt - zum ersten Mal seit sechs Wochen. Zuletzt hatte Erdogan am 26. April einen Tag ohne Termine.

Vor der Wahl war Erdogan oft mehrmals am Tag aufgetreten und hatte dabei regelmäßig die Opposition kritisiert - obwohl die Verfassung dem Staatsoberhaupt Neutralität vorschreibt.

Bei der Parlamentswahl vom Sonntag hatte Erdogans islamisch-konservative AKP die absolute Mehrheit verloren; die AKP ist seit zwölf Jahren in der Türkei an der Macht. Die Kurdenpartei HDP schaffte es erstmals ins Parlament.

Die AKP braucht also einen Bündnispartner, um weiter zu regieren - und um das Präsidialsystem umzusetzen, das Erdogan als Staatschef noch mehr Macht geben soll. Vizepremier Numan Kurtulmus gab sich am Montag zwar optimistisch. Er glaube, dass Regierungschef Ahmet Davutoglu in der Lage sein werde, "innerhalb der vorgegebenen Zeit" eine Regierung zu bilden. Denn ohne die AKP sei dies ja auch nicht möglich. Aber wenn dies nicht gelinge, sei auch eine Neuwahl eine Option.

Opposition will Opposition bleiben

Bei seiner Rede auf dem Balkon der AKP-Zentrale in Ankara war Davutoglu nicht auf die massiven Stimmenverluste eingegangen. Er betonte stattdessen, die AKP sei auch aus dieser Wahl "als Sieger hervorgegangen". Unter dem Jubel der AKP-Anhänger rief er: "Wir haben uns nie gebeugt und werden uns nie beugen."

Die bisherigen Oppositionsparteien haben offensichtlich aber keine Lust auf ein Bündnis mit der Erdogan-Partei. Devlet Bahceli, Chef der ultrarechten nationalistischen Partei MHP, kündigte am Montag bereits an, eine zentrale Rolle in der Opposition einzunehmen. Die MHP war bei der Wahl am Sonntag auf rund 16 Prozent gekommen.

Ein Bündnis mit der AKP lehnte auch die Kurdenpartei HDP ab. "Wir stehen hinter unseren Worten und werden im Parlament eine starke Opposition sein", kündigte der Co-Vorsitzende Selahattin Demirtas an.

Falls sich keine stabile Regierung bilden lässt, müssten Neuwahlen stattfinden - was die Türkei in neue Turbulenzen stürzen würde.

Die EU-Kommission begrüßte die hohe Beteiligung an der Parlamentswahl. Diese sei "ein klares Zeichen der Stärke der türkischen Demokratie", heißt es in einer gemeinsamen Erklärung der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini und des Erweiterungskommissars Johannes Hahn.

Sie verwiesen auf eine "Rekordwahlbeteiligung" von 86 Prozent. "Besonders wichtig" sei zudem "die Tatsache, dass alle wichtigen politischen Parteien eine Vertretung im neuen Parlament erhielten". Die EU hoffe jetzt auf die "schnelle Bildung eines neuen Parlaments und einer Regierung" und freue sich auf eine enge Zusammenarbeit.

Mehr Frauen und Christen im neuen Parlament

Die Türkei ist seit dem Jahr 1999 EU-Beitrittskandidat, seit Oktober 2005 wird mit der EU verhandelt. Die Gespräche kommen jedoch kaum voran. Von den insgesamt 35 Verhandlungskapiteln wurde bislang erst eines abgeschlossen. Widerstand gegen einen EU-Beitritt der Türkei gibt es unter anderem aus Deutschland und Frankreich.

Im neuen Parlament wird es mehr Frauen und mehr Christen als zuvor geben. Wie türkische Medien am Montag berichteten, erhielten bei der Wahl am Sonntag insgesamt 98 Frauen Parlamentsmandate, was einem Anteil von rund 18 Prozent im 550 Mandate umfassenden Parlament entspricht. Bisher lag der Anteil der weiblichen Abgeordneten bei 14 Prozent. Den höchsten Frauenanteil hat die Kurdenpartei HDP, deren Fraktion zu fast 40 Prozent aus Politikerinnen besteht. Darunter ist auch die Deutschtürkin Feleknas Uca, die beide Staatsangehörigkeiten besitzt.

Auch die religiöse Vielfalt in der neuen Volksvertretung des zu 99 Prozent muslimischen Landes wird demnach größer. Insgesamt erhielten vier christliche Abgeordnete - drei Armenier und ein Aramäer - Sitze im Parlament. Uca und ihr Kollege Ali Atalan vertreten die Minderheit der Jesiden. Sie sind Angehörige einer uralten Religion, deren Gläubige seit Jahrhunderten unter Verfolgung leiden und als "Teufelsanbeter" beschimpft werden. Zum ersten Mal in der Geschichte der türkischen Republik zieht mit dem Politiker Özcan Purcu zudem ein Vertreter der Roma ins Parlament ein.