Die Presse, 08.06.2015

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Erdogans AKP sucht nach Wahlniederlage verzweifelt Partner, Neuwahl möglich

Die AKP hat ihr Ziel einer Zweidrittelmehrheit deutlich verfehlt. Die Kurdenpartei HDP könnte den Einzug ins Parlament schaffen.

Nach mehr als zwölf Jahren Alleinregierung hat die islamisch-konservative Regierungspartei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan am Sonntag bei der Parlamentswahl in der Türkei die Regierungsmehrheit verloren. Laut offiziellem Ergebnis rutschte die AKP auf 40,7 Prozent der Stimmen ab und muss damit eine Koalition bilden.
Die Kurdenpartei HDP schaffte den Sprung über die Zehn-Prozent-Hürde und damit den Einzug ins Parlament. Das ergab sich laut Medienberichten nach Auszählung von 98 Prozent der Stimmen.

Nach Medienberichten erhielt die islamisch-konservative Regierungspartei AKP 258 Mandate im Parlament, die säkulare Oppositionspartei CHP 132 Abgeordnete und die rechtsnationalistische MHP 81. Die pro-kurdische HDP wird künftig mit 79 Mandataren im Parlament vertreten sein.

Partner verzweifelt gesucht

Die AKP ist damit erstmals auf einen Koalitionspartner angewiesen. Gelinge es nicht, einen Partner zu finden, seien Neuwahlen nicht ausgeschlossen, sagte der stellvertretende Ministerpräsident Numan Kurtulmus am Montag vor Journalisten in Ankara. Eine Koalition gegen seine AKP sei nicht möglich.

Beobachter sahen die MHP als wahrscheinlichsten Partner an. Der hochrangige AKP-Politiker Burhan Kuzu sagte, baldige Neuwahlen seien unausweichlich. Laut der Verfassung kann der Staatschef neue Wahlen anordnen, wenn keine neue Regierung zustandekommt.

Im südtürkischen Diyarbakir haben die Menschen den Erfolg der HDP gefeiert. Tausende Menschen versammelten sich am Sonntagabend in der Kurdenmetropole, tanzten und feuerten Feuerwerkskörper ab, wie ein dpa-Reporter berichtete.

Wahlziel klar verfehlt

Die vom Präsident Recep Tayyip Erdogan gegründete AKP verfehlte ihr Ziel einer Zwei-Drittel-Mehrheit bei weitem (367 Abgeordnete wären notwendig) und verlor sogar die Absolute Mehrheit im Parlament. Von den abgegebene Stimmen entfielen auf die AKP rund 40,7 Prozent, auf die CHP 25 Prozent, auf die MHP 16,5 Prozent und auf die HDP 13 Prozent. Die Wahlbeteiligung lag bei 86 Prozent.

Das Ergebnis ist eine Niederlage für Erdogan, der die HDP im Wahlkampf scharf angegriffen hatte, obwohl der Präsident nach der Verfassung zur Neutralität verpflichtet ist. Die HDP war mit dem Ziel in den Wahlkampf gezogen, Erdogans Präsidialsystem zu verhindern, und hatte vor einer "Diktatur" gewarnt.

Hohe Wahlbeteiligung

Weder die AKP noch Erdogan haben erklärt, wie ein Präsidialsystem aussehen sollte. Bisher ist der Ministerpräsident Regierungschef. Die Parlamentswahl ist die erste seit dem Amtsantritt von Präsident Erdogan im vergangenen August. Erdogan war davor Ministerpräsident. Der eigentliche Spitzenkandidat der AKP Ahmet Davutoglu spielte im Wahlkampf kaum eine Rolle.

Die HDP war bislang nur mit nominell unabhängigen Kandidaten im Parlament vertreten. Bei der Parlamentswahl 2011 hatte die damals noch von Erdogan geführte AKP 49,8 Prozent (327 Sitze) gewonnen.

Die regierungstreue Zeitung "Yeni Safak" hatte die Sperrfrist der Wahlberichterstattung gebrochen und zuvor noch behauptet, die HDP sei an der Zehnprozenthürde gescheitert.

AKP bringt Minderheitsregierung ins Spiel

Ein hochrangiger Vertreter der Regierungspartei AKP brachte unterdessen die Möglichkeit einer Minderheitsregierung und vorgezogener Neuwahlen ins Spiel. Entsprechende Erwartungen äußerte der Politiker, der nicht namentlich genannt werden wollte, Sonntag Abend gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters

Die heftigen politischen Spannungen hatten sich auch am Wahltag bemerkbar gemacht: Opposition und Regierung beschuldigten einander der Manipulation. Bei Bombenexplosionen während einer Wahlveranstaltung der HDP in Diyarbakır waren zwei Menschen gestorben und Dutzende verletzt worden. Opfer der Explosionen kamen mit Verbänden an Köpfen und Gliedmaßen zur Stimmabgabe. Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu sagte, ein Verdächtiger sei festgenommen worden. Im Wahlkampf waren auch ein HDP-Fahrer erschossen und Wahlbüros mit Bomben angegriffen worden.

Warnung vor Diktatur

Schon im Vorfeld war klar gewesen, dass ein Sprung der HDP ins Parlament die AKP wohl ihre Regierungsmehrheit kosten würde. Umfragen sagten der AKP nur 40% voraus. Erdoğan hatte als Ziel 330 Abgeordnete genannt, seine Pläne eines Präsidialsystems werden von der Opposition als Schritt in die Diktatur gesehen, und das hat der HDP weiteren Zulauf von AKP-kritischen Wechselwählern eingebracht. Gleichzeitig wurden Verluste der AKP auch bei konservativen kurdischen Wählern für möglich gehalten, weil Erdoğan sich 2014 geweigert hatte, den kurdischen Verteidigern der nordsyrischen Stadt Kobane gegen die Belagerer der Jihadisten-Miliz IS zu helfen.
Es wäre das erste Mal, dass in der Türkei eine Kurdenpartei direkt ins Parlament gewählt wird; bisher waren Kurdenpolitiker stets als Einzelkandidaten in die Volksvertretung gelangt.

Gegenseitige Manipulations-Vorwürfe

Am Sonntag berichteten Anhänger der HDP, in einigen Wahllokalen seien Wahlbeobachter nicht zugelassen oder verprügelt worden. Anderswo fanden Wahlbeobachter angeblich ausgefüllte und versiegelte Stimmzettel für die AKP vor, es hieß auch, dass syrische Flüchtlinge zur Stimmabgabe für die AKP in die Wahllokale gekarrt worden seien und dass es Pläne gegeben habe, den Inhalt von Wahlurnen heimlich auszutauschen.

Auch die Regierungsseite meldete Manipulationsversuche. Erdoğan-Berater Mustafa Varank schrieb auf Twitter, im Kurdengebiet würden viele Frauen illegalerweise von ihren Männern in die Wahlkabinen begleitet. Es hieß auch, ein HDP-Helfer habe in einem Wahllokal mehrere Wahlzettel für seine Partei ausgefüllt.

56,6 Millionen Türken waren zur Wahl aufgerufen: 53,7 Millionen in der Türkei und 2,9 Millionen im Ausland. Bis Ende Mai konnten Auslandstürken in türkischen Botschaften und Konsulaten wählen.

(APA/dpa/AFP/Reuters/güs/Red.)