spiegel.de, 08.06.2015

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Demirtas' Triumph bei Türkei-Wahl: König der Kurden

Von Hasnain Kazim, Istanbul

Selahattin Demirtas ist der Gewinner der Türkei-Wahl. Die Erwartungen an den kurdischen Politiker sind groß: Wird er Frieden im Land erreichen? Ein Mann könnte ihm Probleme bereiten.

So richtig zum Feiern ist Selahattin Demirtas nicht zumute. Man freue sich über das Wahlergebnis, aber man trage nun auch eine große Verantwortung, sagt er seinen Anhängern am Montagmorgen im kleinen Kreis in Istanbul. "Wir sind angetreten, um die Interessen aller Minderheiten zu vertreten, nicht nur die der Kurden." Daran müsse man sich jetzt machen: Politik gestalten für alle ethnischen und religiösen Minderheiten, außerdem für Frauen und Homosexuelle - all jene also, die bisher nicht gut weggekommen sind in der türkischen Politik.

Demirtas ist Co-Chef der Demokratischen Partei der Völker, kurz HDP, ein Bündnis der Kurdenpartei BDP und türkischer linker Gruppen. 12,9 Prozent hat die HDP bei der Wahl am Sonntag eingefahren und damit überraschend deutlich die Zehnprozenthürde genommen. Jene Hürde, die die Militärputschisten 1982 in die Verfassung schrieben, um kurdische Parteien aus dem Parlament zu halten.

Es ist also eine Sensation in der türkischen Politik, und Demirtas wird von seinen Fans gefeiert wie ein Popstar, schon im Wahlkampf und jetzt erst recht. Der erst 42-jährige Menschenrechtsanwalt aus Diyarbakir, im Osten der Türkei, hatte schon im vergangenen August gewagt, für das Präsidentenamt zu kandidieren und damit gegen Recep Tayyip Erdogan anzutreten, den damaligen Premier, der dann die Wahl gewann. Demirtas holte damals 9,8 Prozent, schon das war ein bemerkenswerter Erfolg. Er setzte darauf, bei der Parlamentswahl Stimmen dazuzugewinnen.

Die Rechnung ist aufgegangen, alle Versuche der AKP - und allen voran Erdogans -, ihn als "Terroristenvertreter" oder "unislamisch" zu diffamieren, haben nicht gefruchtet. Demirtas hat die Allmacht der seit 13 Jahren allein regierenden islamisch-konservativen AKP gebrochen. Wäre die HDP an der Sperrklausel gescheitert, hätte die AKP erneut die absolute Mehrheit errungen. Jetzt hingegen muss sie innerhalb von 45 Tagen einen Koalitionspartner finden, um Neuwahlen zu verhindern. Der Erfolg der HDP, Demirtas' Erfolg, ist eine Zäsur in der türkischen Politik.

Damit lastet tatsächlich eine große Verantwortung auf seinen Schultern. Auch wenn Demirtas im Wahlkampf immer wieder betont hat, er stehe nicht nur für die Interessen der Kurden, so geht es jetzt darum, einen dauerhaften Frieden zwischen Kurden und Türken zu sichern.

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Parlamentswahl in der Türkei: Wählen, bangen, jubeln
Der drei Jahrzehnte währende Konflikt zwischen der als Terrororganisation eingestuften PKK und dem türkischen Staat hat mindestens 30.000 Menschenleben gekostet. HDP, PKK und viele Türken, darunter auch Erdogan, waren sich zuletzt einig, dass dieser Konflikt nicht mit Waffen in den Bergen, sondern nur durch Verhandlungen gelöst werden kann.

Im Hintergrundgespräch räumte Demirtas ein, dass niemand so viel für die Kurden getan habe in den vergangenen Jahren wie sein größter politischer Gegner - Erdogan. Schritt für Schritt verbesserte sich die Lage für die Kurden nach dem Amtsantritt der AKP im Jahr 2002. Zuerst wurde der Ausnahmezustand aufgehoben, Fernsehen und Schulunterricht in kurdischer Sprache wurden erlaubt, es kam niemand mehr ins Gefängnis, nur weil er kurdische Lieder hörte. Unter Erdogan nahm erstmals eine türkische Regierung offizielle Gespräche auf. Das war 2012. Schon zuvor hatte Demirtas, damals Aktivist in Diyarbakir, sich anerkennend über die Politik der Annäherung geäußert: "Das ist der Anfang vom Ende des Krieges."

Demirtas weiß, was der Kurdenkonflikt bedeutet

Jetzt ist es an ihm, diesen Krieg endgültig zum Ende zu bringen. Im Wahlkampf hat Erdogan die Ängste vieler Türken geschürt, hat vor "den Terroristen" gewarnt und so getan, als habe es die von ihm angestoßenen Friedensverhandlungen nie gegeben. Mehr als 180 Angriffe auf HDP-Büros und Wahlkampfveranstaltungen soll es gegeben haben, zuletzt ein Anschlag auf eine Kundgebung in Diyarbakir. Umgekehrt sollen PKK-Anhänger mit Gewalt gedroht haben, sollte die HDP den Einzug ins Parlament verpassen.

Demirtas weiß, was der Kurdenkonflikt bedeutet. Als Kind erlebte er, wie Soldaten willkürlich Kurden verprügelten und verschleppten. Ein Bruder wurde zu mehreren Jahren Haft verurteilt, wegen angeblicher Mitgliedschaft in der PKK, obwohl er nur an einer Demonstration teilgenommen hatte. Der Vater betrieb ein Geschäft als Wasserinstallateur, viel Geld hatte die Familie nicht und konnte sich deshalb keinen Rechtsbeistand leisten. Damals, sagt Demirtas, habe er beschlossen, Jura zu studieren.

Ein Bündnis mit der AKP, betont Demirtas jetzt nach dem Wahlsieg, werde die HDP nicht eingehen. Aber an einen Tisch wird sie sich setzen müssen mit der immer noch mit Abstand stärksten Partei in der Türkei, um den Friedensprozess voranzutreiben. Als problematisch erweist sich hierbei, dass PKK-Chef Abdullah Öcalan im Hintergrund die Strippen zieht, ausgerechnet der Mann, der die Gewalt der PKK zu verantworten hat. Demirtas macht keinen Hehl daraus, dass er Kontakt zu Öcalan pflegt, er verbreitet offen dessen Ansichten per Twitter und erwähnt sie in Reden. Für viele Türken, aus allen Parteien, macht die HDP sich damit unmöglich.

Dabei übersehen die Kritiker, dass die Erdogan-Regierung selbst mit Öcalan Friedensverhandlungen begonnen hat. Es war Öcalan, der zum Niederlegen der Waffen aufgerufen hat. Viele Kurden verehren ihn bis heute. Für seine Taten hat er 16 Jahre im Gefängnis gesessen, überwiegend in Einzelhaft. Ob er je freikommt, ist ungewiss.

Klar ist aber auch, dass Demirtas und die HDP, um den Weg für einen Frieden freizumachen, die Vergangenheit der PKK und damit auch ihre eigene Vergangenheit aufarbeiten und offenlegen müssten.

AKP-Politiker sprechen am Montag von "negativen Effekten", die der Einzug der HDP ins Parlament habe. Als ob es nicht auch an ihnen liege, diese erst gar nicht zuzulassen und im Geiste der Zusammenarbeit, des Beilegens alter Konflikte und der Umsetzung des Wählerwillens Gespräche zu führen.