Süddeutsche Zeitung, 09.06.2015 Erdoğan hat den Maßstab verloren Recep Tayyip Erdoğan hat vieles richtig gemacht, als türkischer Premier und Präsident. Doch er ist auf Abwege geraten. Das Volk will keinen neuen Sultan. Von Christiane Schlötzer Die Türkei ist eine Demokratie. So steht es in der türkischen Verfassung, jener Verfassung, die Präsident Recep Tayyip Erdoğan so gerne geändert hätte, um das Land ganz nach seinem Bild zu formen - wie ein osmanischer Sultan, der bestimmt, was sein Volk darf und was nicht. Aber die Mehrheit der Türken will im 21. Jahrhundert keinen absolutistischen Herrscher, selbst wenn er Erdoğan heißt. Dem Volkstribun ist bei der Parlamentswahl das Volk weggelaufen. Die Türkei bleibt eine Demokratie, Regierungswechsel sind mit dem Stimmzettel möglich. Das ist hocherfreulich. Das Land ist also nicht in
Gefahr, zur Diktatur zu verkommen, wie die Kurdenpartei HDP im Wahlkampf
gewarnt hatte. Dass nun mit der HDP - 92 Jahre nach der Gründung der Türkischen
Republik - erstmals eine prokurdische Partei ins Parlament einzieht, stellt
eine neue Normalität im Vielvölkerstaat Türkei her. Die 13 Prozent, mit
denen die HDP die absurde Zehn-Prozent-Hürde übersprang, sind eine Sensation.
Das Ergebnis hat die Partei dem Talent und Charisma ihres Spitzenmannes
Selahattin Demirtaş zu verdanken. Aber es ist eben auch ein Misstrauensvotum
gegen Präsident Erdoğans Allmachtsanspruch. Als Erdoğan und seine Partei AKP vor 13 Jahren ihren ersten Wahlsieg feierten, so ausgelassen und befreit wie jetzt die Kurden, war das eine Zeitenwende. Erdoğan ist der erste Türke, der es aus einem Istanbuler Slum bis ganz nach oben geschafft hat, erst auf den Stuhl des Premiers, dann auf den des Präsidenten. Er gab den einfachen Leuten aus den Glasscherbenvierteln der Großstädte und den religiösen Konservativen aus der Provinz Stolz. Etwas, das sie nicht kannten, solange eine säkulare Elite die Politik bestimmte und die Profite aufteilte. Ihren fulminanten Aufstieg hatte die AKP dem Totalversagen dieses alten Systems zu verdanken. Erdoğan hat dann erst einmal vieles richtig gemacht. Er hat das Land geöffnet für Ideen und Investoren, hat die Annäherung an die EU vorangetrieben. Die Modernisierungsleistung war enorm. Die Türken sind heute mehrheitlich ein Volk von Städtern. Flughäfen und Autobahnen machen selbst das Reisen im entlegenen Osten einfach, wohin sich vor wenigen Jahren kaum ein Istanbuler wagte. Erdoğan brach auch das kurdische Tabu, hob das Sprachverbot auf, suchte Frieden mit den Rebellen in den Bergen. Der Erfolg von Demirtaş ist auch ein Erfolg dieser Liberalisierungspolitik. Irgendwann aber ist Erdoğan
der Maßstab verloren gegangen, in seinem 1000-Zimmer-Palast in Ankara.
Da half es auch nicht mehr, dass er, was er nach der Verfassung gar nicht
durfte, Wahlkampf mit dem Koran in der Hand machte. Luxus, Korruption,
Verschwendung - das gab auch einst glühenden Erdoğan-Fans das Gefühl:
Dieser Mann ist keiner mehr von uns. Dazu kamen Ängste, die Türkei könnte
sich außenpolitisch verheben, mit einem erzwungenen Regimewechsel in Syrien
beispielsweise. Zu Beginn seines Aufstiegs, im Jahr 2002, reichten Erdoğan 34 Prozent der Wählerstimmen für eine Zweidrittelmehrheit im Parament, dank der weit früher eingeführten Zehn-Prozent-Hürde. Nun ist die AKP mit 41 Prozent auf einen Koalitionspartner angewiesen. Die Macht zu teilen, ist diese Partei nicht gewohnt. Ob sie es lernen wird, und ob sie einen kooperationswilligen Partner findet, ist offen. Ein Bündnis mit den Ultranationalisten von der MHP, der drittstärksten Kraft, ist möglich. Aber dann könnte die Versuchung wachsen, die Kurden, die nun parlamentarisch nicht mehr niederzuringen sind, wieder blutig zu bekämpfen. Regierungsnahe Blätter hatten am Montag schon eine andere Alternative parat: Neuwahlen. Sollte es so weit kommen, dürfte Erdoğan die Ängste der Türken vor politischer und wirtschaftlicher Instabilität schüren. Am Montag rief der Präsident erst einmal alle Kräfte dazu auf, sich verantwortungsvoll zu verhalten und "Feingefühl" zu zeigen. Diese Mahnung klang seltsam aus dem Mund eines Mannes, der bis zuletzt unzählige Kritiker vor Gerichte stellen ließ. Erdoğans Arroganz ging sogar manchem AKP-Politiker zu weit, aber kaum einer wagte sich aus der Deckung - aus Respekt vor Erdoğans Erfolgen und aus Angst vor dessen Bannstrahl. Innerparteiliche Demokratie, die auch zur Demokratie gehört, ist in der Türkei eher unbekannt. Mit ihrem Wahlerfolg haben die Kurden der Türkei über eine historische Schwelle verholfen. Sie haben verhindert, dass das Land sich in eine zentralasiatische Autokratie à la Turkmenistan verwandelt. Nun müssen die Kurden entscheiden, welche Rolle sie im Parlament einnehmen wollen. Ob sie Fundamentalopposition betreiben oder die Regierung dann stützen möchten, wenn diese vernünftige Dinge tut. Schaffen sie Letzteres, hätten die Kurden der Türkei noch eine demokratische Lektion erteilt. URL: http://www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-tribun-ohne-volk-1.2510857
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