Der Standard, 09.06.2015

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Türkei: Präsident glaubt trotz Strafwahl ans Weiterregieren

Markus Bernath aus Istanbul

Nach der Abfuhr bei der Parlamentswahl in der Türkei versucht die bisher allein regierende konservativ-religiöse AKP von Tayyip Erdogan, sich neu zu orientieren. Ein Koalitionspartner ist nicht in Sicht

Einer nach dem anderen treten sie vor die Mikrofone und tun ihre Ansicht kund, wie es nun weitergehen soll; so unterschiedlich, als gehörten sie nicht alle zur selben Partei. Numan Kurtulmus, einer der noch amtierenden Vizepremiers, glaubt an eine Koalition. Das werde die AKP nun versuchen, sagt er am Montag nach der Wahl in Ankara; und klappt es nicht, gibt es eben Neuwahlen.

Nein, hört man von Bülent Arinç, dem Parteiveteranen und ebenfalls stellvertretenden türkischen Regierungschef: Sollen die anderen es doch erst gemeinsam probieren, die Sozialdemokraten, die Nationalisten und die Kurden; und scheitern sie, kommt die AKP.

Der Außenminister klagt über das Ausland, das sich die Hände reibe über das Wahlergebnis. Der Arbeitsminister kündigt an, dass nun gearbeitet werde, um die Gründe für den Verlust der Regierungsmehrheit zu finden und den Weg aus diesem Schlamassel: Zweieinhalb Millionen Stimmen hat die konservativ-islamische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung bei der Parlamentswahl am Sonntag verloren. Sie hat niemanden, mit dem sie regieren kann, aber sie ist trotzdem weiter die mit Abstand größte politische Kraft im Land. Es ist, als ob die Wähler eine Glaswand zwischen die AKP und die Macht geschoben haben. Das macht die Minister ratlos - und auch genervt.

"Wir sind das Rückgrat der Türkei", sagt Regierungschef Ahmet Davutoglu, als er am Montag sein Kabinett antreten lässt. In 56 der 81 türkischen Provinzen ist die AKP auch dieses Mal die stärkste Partei geworden. In der Wahlnacht war Davutoglu auf den Balkon des AKP-Palasts in Ankara getreten und hatte seine Partei angepriesen wie der Ansager eines Boxkampfs vor Tausenden von Fahnen schwenkender Anhänger. "Elfmal hintereinander Wahlen gewonnen", brüllte Davutoglu, viermal Champion in Folge bei Parlamentswahlen: "Wir sind der Wille des Volkes, der Wille des Volkes, der Wille des Volkes!", hämmerte er dem Parteivolk ein. Später, am Montag, ist Davutoglu bei Tayyip Erdogan, dem Staatspräsidenten, einbestellt.
"Gesund und realistisch"

Erdogan lässt zunächst nur eine kurze Erklärung auf die Webseite seines Amts stellen. "Gesund und realistisch" sollten die Parteien das Wahlergebnis betrachten und ihre Schlüsse ziehen, sagt er dort. Im Klartext: Die AKP hat als Partei mit den meisten Wählerstimmen das Recht weiterzuregieren; ein Koalitionspartner möge sich finden.

Die HDP ist es schon einmal nicht. Selahattin Demirtas und Figen Yüksedag, die beiden Vorsitzenden der mehrheitlich kurdischen Partei der Demokratischen Völker, kosten ihren Sieg in der Wahlnacht in Istanbul aus: 80 Sitze werden es am Ende sein. Keine Koalition mit der AKP, sagt Demirtas bei einer Pressekonferenz im Stadtteil Beyoglu, unweit der Istiklal-Straße. "Die Diktatur ist am Ende", erklärt er und meint Erdogans Drängen auf eine Präsidialverfassung. Unten auf der Straße schwillt die Menge an und beginnt den alten Schlachtruf der Gezi-Proteste zu skandieren: "Das ist nur der Anfang, der Kampf geht weiter."

Dann aber kommt der Mann mit dem grimmigen Gesicht. Devlet Bahçeli, der Führer der rechtsgerichteten Nationalisten der MHP, beendet kurz nach Mitternacht alle Spekulationen über Koalitionen. Seine Partei stehe niemandem zur Verfügung, sagt er. Zunächst einmal. (Markus Bernath aus Istanbul, DER STANDARD, 9.6.2015)