Neue Zürcher Zeitung, 09.06.2015

http://www.nzz.ch/international/europa/der-neue-hoffnungstraeger-der-tuerkei-1.18558372

Selahattin Demirtas

Der neue Hoffnungsträger der Türkei

Der neue Star der türkischen Politik heisst Selahattin Demirtas. Unter seiner Führung hat sich die kurdische HDP geöffnet. In gewisser Weise ist das auch ein Erfolg der Gezi-Bewegung.

von Inga Rogg, Istanbul

Gehöhnt hat er, gegiftelt. Einen Scharlatan und indirekt einen Gottlosen hat der türkische Präsident Selahattin Demirtas, den Co-Vorsitzenden und das Zugpferd der Demokratischen Partei der Völker, genannt. Und jetzt haben sie es nicht nur Recep Tayyip Erdogan, dem Staatspräsidenten und selbsternannten Schulmeister der Nation, gezeigt. Sie haben es auch allen anderen gezeigt, die daran zweifelten, dass die HDP den Einzug ins türkische Parlament schaffen würde. Das feiern sie nun in Diyarbakir, der kurdischen Metropole im Osten des Landes, aber auch in Istanbul.

«Selo, Selo, Selo», rufen sie vor der HDP-Zentrale im Istanbuler Bezirk Beyoglu. Selo ist die kurdische Koseform von Selahattin. Nur das schummrige Licht aus dem Parteibüro und den umliegenden Häusern erhellt die Dunkelheit in der engen Strasse. Viele der früheren Bewohner des Quartiers Tarlabasi – Kurden, die vor dem Krieg im Osten hierher flüchteten, und andere am Rand der Gesellschaft Lebende – mussten den Abrissbirnen weichen. «Wir, die Unterdrückten der Türkei, die Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit wollen, haben einen überwältigenden Sieg erzielt», hat Demirtas verkündet. «Das ist ein Sieg der Arbeiter, Arbeitslosen, Dorfbewohner und Bauern. Es ist ein Sieg der Linken.»

Der Geist von Gezi

Genau deshalb habe er diesmal die HDP gewählt, sagt ein Mittdreissiger mit langen Wuschelhaaren. «Ich bin ein überzeugter Kemalist», fährt er fort. «Aber ich will, dass diese Typen im Parlament vertreten sind.» Und noch etwas: «Demirtas hat gesagt, er sei ein Kind von Atatürk. Das fand ich gut.» Der 42-jährige Politiker hat den richtigen Ton gefunden, um die Gräben in dem tief gespaltenen Land zu überbrücken. Mit diesem Kunststück hat er die HDP zum Erfolg geführt.

Der ehemalige Menschenrechtsanwalt ist nicht nur ein brillanter Redner, der es schafft, Hunderttausende in seinen Bann zu ziehen. Er hat sich und seine Partei im Wahlkampf auch erfolgreich als politischen Gegenentwurf zu Erdogan präsentiert. Die biestigen Tiraden des Präsidenten parierte er mit Witz, dessen Macho-Gehabe mit Dauerlächeln. «Demirtas ist genau der Politiker, den die Türkei braucht», sagt Özgür Ünlühisarcikli, Direktor des German Marshall Fund in Ankara. «Er hat einen grossartigen Humor, kennt alle Kulturen des Landes und hat eine reine Weste.»

Von einer kurdischen Interessenpartei hat sich die HDP in den letzten zwei Jahren zu einer Partei gewandelt, die allen ein Dach bieten will: Kurden und Türken, Muslimen und Angehörigen von Minderheiten wie den Aleviten, Armeniern, assyrischen Christen und Jesiden, den Kopftuchträgerinnen und den von Erdogan gern bemühten Whiskytrinkern am Bosporus, den Linken, Liberalen und Umweltschützern ebenso wie den Homo- und Transsexuellen. Frauen spielen in der Partei ohnehin schon lange eine prominente Rolle.

In gewisser Weisse atmet die HDP von 2015 den Geist der Gezi-Bewegung, die sich vor zwei Jahren gegen Erdogan formierte. Viele aus der Protestbewegung haben diesmal die HDP gewählt. Auch Anhänger der Republikanischen Volkspartei (CHP) haben für sie gestimmt. Das ist ein enormes Reifezeugnis und ein Sieg für die Demokratie in der Türkei. Die HDP ihrerseits ist damit mitten in der Türkei angekommen.

Demirtas den Rücken gestärkt

Die «Türkifizierung» birgt für die HDP freilich auch erhebliche Risiken. Den kurdischen Nationalisten passt sie überhaupt nicht. «Lang lebe der Führer Apo», brüllen Jugendliche vor der HDP-Zentrale in Tarlabasi. Dazu schwingen sie Fahnen mit dem Konterfei von Abdullah Öcalan, dem seit 16 Jahren auf einer Insel bei Istanbul gefangengehaltenen Chef der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). «Freiheit für Apo», fordern sie. Das verlangt auch die HDP. In der Wahlnacht macht Demirtas noch einmal klar, dass der Friedensprozess möglichst schnell zu Ende gebracht werden müsse.

Einen erheblichen Anteil am Wahlerfolg haben freilich auch die Kurden, die mit Öcalan nichts am Hut haben und die in dem Krieg in den neunziger Jahre teilweise sogar auf der Gegenseite kämpften. Sie haben der AKP jetzt in Scharen den Rücken gekehrt. Ein Grund ist die Position, die Erdogan im Kampf zwischen den Kurden und der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) um die syrische Stadt Kobane vertritt. Ein anderer ist, dass die HDP in den letzten Monaten enorme Anstrengungen für eine innerkurdische Aussöhnung unternommen hat.

Der Wahlsieg stärke Demirtas den Rücken gegenüber Hardlinern in den eigenen Reihen und gegenüber der PKK, sagt Ünlühisarcikli. Wenn sie ihn unter Druck setzten, könnte er nun auf die HDP-Wähler im Westen der Türkei verweisen, die für allzu radikale Forderungen nicht zu haben wären. In Tarlabasi tanzen sie, einige zünden Feuerkörper. «Sie haben uns Terroristen genannt», sagt ein Alter, der Schals mit dem Demirtas-Porträts verkauft. «Jetzt haben wir sie alle Lügen gestraft.»