Der Standard, 09.06.2015

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"Erdoğans 'Neue Türkei' ist jetzt schon alt"

Interview | Markus Bernath

Der US-türkische Analyst Çenk Sidar hält eine Ablösung der AKP für möglich. Sozialdemokraten und Nationalisten könnten mithilfe der Kurden regieren

STANDARD: Haben Sie dieses Ergebnis erwartet?

Sidar: Ich habe einen Stimmenverlust für die AKP erwartet und etwa zwölf Prozent für die HDP. Es sind noch etwas mehr geworden. Wir stehen jetzt an einem entscheidenden Punkt der türkischen Politik. Präsident Tayyip Erdoğan ist erstmals der Verlierer. Sein Ziel war es, das parlamentarische System in ein präsidiales System umzuwandeln. Das kann er nun nicht erreichen. Diese "neue Türkei", die er angepriesen hat, ist jetzt schon alt.

STANDARD: Wie geht's jetzt weiter?

Sidar: Der amtierende Premier Ahmet Davutoglu hat in der Nacht eine Art Siegesrede gehalten, aber es ist ziemlich wahrscheinlich, dass er nicht einmal eine Koalition bilden kann. Die Nationalisten der MHP haben das zumindest ausgeschlossen. Meiner Ansicht nach – ich brainstorme – sind die Chancen für eine Minderheitsregierung der AKP ebenso hoch wie für eine Minderheitsregierung der Sozialdemokraten von der CHP mit der MHP und fallweiser Unterstützung durch die HDP von außen.

STANDARD: Hört sich aber nicht sehr stabil an. Was würde eine solche Minderheitsregierung bedeuten?

Sidar: Sie wäre eigentlich sehr gut für das wirtschaftliche Klima. Eine solche Koalition würde Vorausschaubarkeit für Investoren schaffen. Weltwirtschaftlich betrachtet geht die Türkei schwierigen Zeiten entgegen. Weil die US-Notenbank wohl im September die Zinsen erhöht, wird weniger kurzfristiges Kapital in Länder wie die Türkei fließen. Um mit solchen Problemen fertig zu werden, müsste die Türkei eine starke Demokratie aufbauen – mit rechtsstaatlicher Ordnung und gegenseitiger Kontrolle der Staatsgewalten. Mit einer AKP-Regierung wäre das nicht möglich. Es wäre möglich mit einer rationaleren Regierung, einer CHP-MHP-Koalition, unterstützt von den Kurden. Eine solche Regierung würde einen nationalen Dialog im Land schaffen.

STANDARD: Sind Sie da zu optimistisch? Kurden und Rechtsnationalisten sind gegensätzlicher Meinung über die Friedensgespräche.

Sidar: Jede Minderheitsregierung hat ein Ablaufdatum. Vielleicht ist es in zwei Jahren vorbei. Aber eine solche Regierung würde eine gute Übergangsperiode darstellen. Ich sage nicht, es wäre das ideale Szenario für die Türkei. Aber angesichts der Optionen, die da sind, scheint es mir das beste Szenario. Eine solche Koalition würde die HDP auch für weitere Schichten im Land öffnen. Und wenn die kurdische Partei weiter Kurs hält und die ethnischen Trennlinien in der Türkei überspringt, könnte sie eine politische liberale Kraft werden, ein wichtiger Parameter in der türkischen Politik, wie es die Grünen in Deutschland wurden. Und Sie müssen noch etwas anderes im Auge behalten: Dieses Mal hat die MHP, ebenso wie die CHP, gute Leute in ihrem Wirtschaftsteam. Der frühere Zentralbankchef Durmus Yilmaz ist als MHP-Abgeordneter gewählt worden; ebenso der frühere Präsidentenkandidat und Generalsekretär der Organisation für Islamische Kooperation (IOC), Ekmeleddin Ihsanoglu. Das sind international ausgerichtete Leute, die sich mit Märkten auskennen. Das ist nicht die engstirnige nationalistische MHP von früher.

STANDARD: In der Außenpolitik scheinen sich die US-türkischen Beziehungen gerade etwas von dem Streit über Intervention und Regimesturz in Syrien erholt zu haben. Was erwarten Sie nach dem Verlust der Mehrheit für die AKP?

Sidar: Es kann von hier an eigentlich nur in eine positive Richtung gehen. Präsident Erdoğan wird weniger Einfluss auf die nächste Regierung nehmen können, wer immer sie führen wird. Es wird rationalere Entscheidungen geben – nicht diese emotionalen Ausbrüche, den einen Tag gegen Syriens Bashar al-Assad, den nächsten gegen Ägyptens Abdelfattah al-Sisi. Ich erwarte eine Normalisierung der Außenpolitik. Gleichzeitig aber wird sich die Türkei der kommenden wirtschaftlichen Probleme wegen mehr nach innen konzentrieren. (Markus Bernath, 9.6.2015)