welt.de, 08.06.2015

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Die AKP steht vor einem riskanten Koalitionsdilemma

Erdogans AKP hat nach der Parlamentswahl keine Mehrheit mehr. Und keine der Oppositionsparteien zeigt derzeit Interesse an einer Koalition. Eine der Optionen wäre nun besonders riskant. Von Boris Kálnoky

Groß war am Sonntagabend die Freude über die Ergebnisse der türkischen Parlamentswahl: Die Kurden und die türkische Opposition konnten es kaum fassen, dass das scheinbar Unmögliche gelungen war. Die übermächtige Regierungspartei AKP, die alle Ressourcen des Staates und der weitgehend von ihr kontrollierten Medien im Wahlkampf genutzt hatte, hat ihre Regierungsmehrheit verloren. Auch im Westen registrierten viele Kommentatoren erleichtert, dass die zuletzt immer autokratischer auftretende türkische Führung einen Dämpfer erhielt.

Doch für Erleichterung ist es zu früh, denn das Wahlergebnis (Link: http://www.welt.de/themen/tuerkei-politik/) erhebt die MHP zum Königsmacher. Die Nationalistenpartei wird entscheiden, wer am Ende regiert oder eben nicht. Außer der MHP gibt es nämlich im neuen Parlament nur erklärte Gegner der islamisch-konservativen AKP: die säkulare CHP und die spektakulär über die Zehn-Prozent-Hürde gesprungene Kurdenpartei HDP.

Die Kurden hatten einst zwar Kooperationsbereitschaft mit der AKP signalisiert, aber Parteichef Selahattin Demirtas machte in der Wahlnacht deutlich, dass das Tischtuch inzwischen zerschnitten ist: Die Zeit der AKP sei vorbei; sie sei die einzige Partei, mit der seine HDP auf keinen Fall koalieren werde. Man erwarte nun von den anderen Oppositionsparteien, die Zeichen der Zeit – also den Erfolg der HDP – richtig zu deuten und sich mit den Forderungen der Kurden zu beschäftigen. Für diesen Fall werde auch die HDP bereit sein, auf die Oppositionsparteien zuzugehen.

Immerhin ist der Graben zwischen Kurden und CHP längst nicht mehr so breit wie früher. Denn es waren vor allem klassische CHP-Wähler, die der HDP mit ihrer Stimme zum Sprung ins Parlament verhalfen. Demirtas' Botschaft gilt also vor allem der nationalistischen MHP. Seit jeher ist Kurdenfeindlichkeit das zentrale Element ihrer Identität. Kann sie sich davon befreien?

AKP-Koalition mit Nationalisten erfordert Härte gegenüber Kurden

Dieses Problem hätten die Nationalisten mit der Regierungspartei AKP nicht. Die sendete denn auch in der Nacht deutliche Botschaften. Yigit Bulut, ein Sprachrohr von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan (Link: http://www.welt.de/themen/recep-tayyip-erdogan/) , verkündete, seine Partei werde nun eine Minderheitsregierung bilden, die fallweise von Oppositionsparteien unterstützt werden würde. AKP-Vize Numan Kurtulmus sagte am Montag, die Partei werde eine Regierung bilden können. Das setzt aber Unterstützung aus der Opposition voraus, sei es durch Duldung oder in Form einer Koalition.

Beide AKP-Politiker zielten nach der klaren Absage von HDP-Chef Demirtas vor allem auf die MHP. Deren Anhänger können sich mit dem zuletzt immer nationalistischeren Ton der AKP durchaus anfreunden, auch ein beträchtlicher Teil der MHP-Wähler ist religiös-konservativ. Was sie an der AKP stört, sind selbst deren bescheidene Versuche, den Kurden durch wohlwollende Gesten zu gefallen.

Erdogans Parteigänger müssten als Preis für eine Koalition mit der MHP also zu einer Politik der harten Hand gegenüber den Kurden zurückkehren. Diese fühlen sich allerdings im Aufwind der Geschichte und würden sich einen solchen Politikwechsel sicher nicht gefallen lassen. Eine solche Lösung birgt im Extremfall sogar das Risiko eines Bürgerkriegs.

MHP-Chef Devlet Bahceli, ein spröder Mann, der sich noch nie durch besondere Wendigkeit hervorgetan hat, muss also geschickt manövrieren: Er kann mitregieren; er kann sich sogar aussuchen, mit wem. Er muss jedoch so oder so mit negativen Reaktionen seiner Anhänger rechnen. Die drei großen Oppositionsparteien haben zusammen im neuen Parlament 290 Sitze, deutlich mehr als die 276, die für eine Regierungsmehrheit erforderlich sind. Erkennt Bahceli die Dynamik im Land und hilft, die AKP ihrer Macht zu berauben?

Die Nationalisten folgen ihrer Führung

Wie schwer der MHP eine solche Entscheidung fallen würde, konnte man schon am Wahlabend beobachten. Im Parteibüro im Istanbuler Stadtteil Besiktas scharten sich rund zwei Dutzend Mitarbeiter und Aktivisten um Listen mit Namen von Wahlbeobachtern, telefonierten hektisch, diskutierten. Auf die Frage, ob sie mit der Kurdenpartei HDP kooperieren könnten, versteinerten sich die Gesichter. "Mit denen wollen wir nichts zu tun haben", sagte Bezirksleiter Tuncay Burusuk. "Mit denen reden wir nicht."

Auch die örtliche Kandidatin Füsun Kayan Ardaman fand kein positives Wort, betonte aber: "Das muss die Parteiführung entscheiden." Autoritätsgläubigkeit ist fest in der der politischen Kultur der MHP verankert: Wenn der Chef es so entscheiden sollte, dann muss es wohl auch sein.

Sicher wird Erdogan mit seiner AKP den Nationalisten ein verlockendes Angebot machen. Es anzunehmen wäre freilich auch gefährlich. Der politische Wind scheint sich gegen die AKP zu wenden, und wenn ihr Schiff untergeht, will der MHP-Chef sicher nicht an Bord sein.

In der Wahlnacht schien es so, als wette Bahceli auf Neuwahlen. Von der Möglichkeit einer Koalition mit den beiden anderen Oppositionsparteien sprach er gar nicht erst. Vielmehr müsse neu gewählt werden, wenn die AKP keine Regierung bilden könne. Dahinter steckt offenbar die Einschätzung, dass die eigene Partei – ihr Stimmenanteil stieg zuletzt von 13 auf 16,5 Prozent – weiter zulegen dürfte, während die AKP weiter verlieren wird.

Eine Neuwahl als Ausweg? Gut möglich, denn auch andere Parteien rechnen sich Chancen aus. An erster Stelle steht da die kurdische HDP, die sich ohnehin im Aufschwung befindet. Aber selbst die AKP könnte in diesem Szenario hoffen, dass die Wähler ein Machtvakuum verhindern wollen – und deshalb zu ihr zurückkehren werden.