welt.de, 08.06.2015

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Erdogans geschwächte AKP hofft auf Neuwahlen

Für die türkische Regierungspartei kommt nach der Wahlschlappe nur ein Bündnis mit den Nationalisten infrage – ein Wagnis. In der AKP hegt man nun Hoffnung auf eine Neuwahl mit stärkeren Kandidaten. Von Deniz Yücel

Nach der Wahl ist vor der Wahl. Jedenfalls, wenn es nach dem Willen der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) geht, die bei der Parlamentswahl in der Türkei am Sonntag neun Prozentpunkte und ihre absolute Mehrheit verloren hat. Die Zeitung "Yeni Safak", Leitmedium der AKP-Propagandapresse, brachte am Tag danach auf die Titelseite, wovon einige AKP-Politiker bereits in der Wahlnacht gesprochen hatten: Neuwahlen.

Denn, so ist man in der AKP überzeugt, die bisherigen Oppositionsparteien werden sich auf kein Bündnis verständigen können (Link: http://www.welt.de/142140799) . Die andere Möglichkeit, nämlich eine Koalition unter Führung der AKP – wofür nur die ultranationalistische Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) infrage kommt –, ist für die AKP der Inbegriff von Instabilität.

"Was freut ihr euch, die AKP ist immer noch die stärkste Partei", heißt es denn auch im Leitartikel der Zeitung "Yeni Safak" (Link: http://english.yenisafak.com/) . Die AKP werde sich erneuern und im Herbst mit einem "stärkeren Personal" antreten. Namentlich genannt werden zwar nur die Kandidaten in den kurdischen Regionen, wo die Regierungspartei enorme Verluste erleiden musste. In Diyarbakir etwa büßte sie fünf ihrer zuvor sechs Mandate ein, während die restlichen zehn Sitze der Provinz an die prokurdisch-linke HDP gingen.

Aber schon am Wahlabend begannen Spekulationen über die Zukunft von Ministerpräsident Ahmet Davutoglu (Link: http://www.welt.de/themen/ahmet-davutoglu/) . Falls es wirklich zu Neuwahlen kommt, ist ungewiss, ob er dann wieder die AKP führen wird; am Ende der siebeneinhalbstündigen Sitzung der AKP-Gremien gab nur ein stellvertretender Parteichef eine nichtssagende knappe Erklärung ab.

Erdogan meidet die Öffentlichkeit

Wobei das Wort "führen" im Zusammenhang mit dem Regierungschef nur bedingt geeignet ist. Denn geführt wird die AKP ganz eindeutig von dem Mann, der in den vergangenen Wochen womöglich mehr öffentliche Reden abgehalten hat als alle Kandidaten, zumindest aber den meisten Sendeplatz für sich beanspruchen konnte. Und das, obwohl er weder zur Wahl stand noch in seiner Funktion Wahlwerbung hätte machen dürfen: Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan (Link: http://www.welt.de/themen/recep-tayyip-erdogan/) . Kein Wunder, dass Russlands Präsident Wladimir Putin, dem in in diesen Fragen niemand die Kompetenz absprechen wird, seine Glückwünsche nicht der Form entsprechend an Davutoglu, sondern an Erdogan adressierte.

Der zeigte sich in seiner ersten Erklärung nach der Wahl am Montagvormittag ungewöhnlich präsidial und rief alle Parteien in einer schriftlichen Erklärung dazu auf, Verantwortung zu übernehmen. Am Dienstagmittag soll er sich mit Davutoglu treffen. Aber öffentlich gesagt hat der in den vergangenen Wochen so omnipräsente Präsident bislang kein Wort; mittlerweile gibt es sogar eine Website, die die Zeit seines Schweigens erfasst.

Für Selahattin Demirtas (Link: http://www.welt.de/140883529) , den Co-Vorsitzenden der HDP und neuen Popstar der türkischen Politik, war Erdogan nicht einmal telefonisch erreichbar. "Ich habe den Staatspräsidenten angerufen, aber er geht nicht ans Telefon", sagte Demirtas am Wahlabend in Istanbul – eine Anspielung auf ein Wort von Erdogan zwei Tage zuvor. Der hatte wenige Stunden nach dem Bombenanschlag gegen eine HDP-Wahlveranstaltung am Freitagabend in Diyarbakir (Osttürkei) in einem Fernsehinterview gesagt, er habe Demirtas angerufen. Dieser sei aber nicht ans Telefon gegangen.

Zehntausende waren in Diyarbakir freiwillige Wahlhelfer

Am Tag nach dem großen Erfolg der HDP sind in Diyarbakir weiterhin die Folgen des Anschlags, bei dem zwei Menschen starben, zu spüren. Einige Dutzend Verletzte liegen noch immer in den Krankenhäusern; mehreren Menschen mussten Beine oder Arme amputiert werden.

"Die wollten mit diesem Anschlag eine Massenpanik auslösen", sagt Kerem Celik, ein ehemaliger Journalist, der heute als Sprecher der HDP arbeitet. "Dass die Polizei die Menschenmenge mit Wasserwerfern und Tränengas angriff, zeigt für mich, dass sie gewalttätige Auseinandersetzungen provozieren wollten – um türkische (Link: http://www.welt.de/themen/tuerkei-politik/) Wähler im Westen abzuschrecken, vielleicht sogar, um einen Vorwand zu haben, um die Wahl zu verschieben."

Daran, dass die Täter in den Reihen des Staates, womöglich sogar im engsten Umkreis von Erdogan zu suchen sind, zweifelt hier niemand. Allerdings habe, so Celik weiter, die HDP auf diesen Anschlag so besonnen reagiert wie auf die anderen Übergriffe und Anschläge zuvor.

Und noch einen anderen Plan der AKP-Führung habe die HDP, aber auch die CHP verhindert: Zehntausende Freiwillige hätten als Wahlhelfer dafür gesorgt, dass keine Manipulationen im großen Umfang stattfinden konnten und einige Betrugsversuche sofort aufflogen. Allerdings glaubt Celik, dass die Anschläge die entgegengesetzte Wirkung hatten: "Für viele unentschlossene Wähler war das ausschlaggebend. Sie haben gesagt: Jetzt reicht es endgültig."

So erklärt die Kurdenpartei ihren eigenen Erfolg

Altan Tan, Spitzenkandidat der HDP in Diyarbakir, teilt diese Einschätzung. Er gehörte als nominell unabhängiger Kandidat bereits dem letzten Parlament an. In der "Rainbow Coalition", welche die HDP mit Liberalen, Sozialisten, Feministinnen und vielen anderen, allen voran der kurdischen Bewegung, bildet, ist der 56-Jährige einer der prominentesten Figuren des islamischen Flügels.

Über mögliche Koalitionen will er derzeit nicht reden. Aber dafür ist er sich ziemlich sicher, was zur Niederlage der AKP und zum Erfolg der HDP geführt hat. "Die Antwort auf beide Fragen ist dieselbe", sagte Tan im Gespräch mit der "Welt". "Bei ihrer ersten Wahl hat die AKP Demokratie, den Beitritt der Türkei in die EU und eine friedliche Lösung der Kurdenfrage versprochen. Dafür bekam sie über ihre traditionelle Klientel hinaus Unterstützung der Liberalen in den Städten und der religiösen Kurden. Aber sie hat ihre Versprechen nicht wahrgemacht und schrittweise ein totalitäres Regime eingeführt."

Das Massaker im Dorf Robiski, wo die türkische Armee Ende 2011 34 Dorfbewohner umbrachte, oder die Unterstützung für die Terrormiliz Islamischer Staat (Link: http://www.welt.de/themen/islamischer-staat/) in Syrien hätten die kurdischen Wähler vertrieben. "Heute sind genau die Milieus, die uns den Wahlsieg beschert haben, also die Stimmen der Liberalen im Westen und der frommen Kurden, die wir neu gewinnen konnten. Und Leihstimmen von Bürgern, die uns gewählt haben, weil sie wussten, dass das der einzige Weg ist, die AKP-Herrschaft zu beenden." In diesem Sinne sei die HDP die Nachfolgerin der AKP, sie vertrete genau die Ziele, mit der die AKP 2002 erfolgreich war, einschließlich eines Beitritts in die EU. "Möge Gott uns dabei helfen, dass wir unsere Versprechen nicht brechen."

Ein paar Stunden nach seinem Gespräch mit der "Welt" sorgte Tan mit dem Auftritt in einer Talkshow für Aufregung: HDP-Chef Demirtas habe sich dazu bekannt, Muslim zu sein, sagte er. Kemal Kilicdaroglu hingegen habe dies nicht gekonnt – eine Anspielung darauf, dass der Vorsitzende der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP einen alevitischen Hintergrund hat. Die Folge: Eine große Aufregung in den sozialen Medien, auch unter Anhängern der HDP. Eine Userin schrieb: "Ich bin Alevitin, und die HDP ist meine Partei, nicht die von Eseln wie Ihnen."