welt.de, 09.06.2015

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Was die erbeuteten Daten über den IS-Führer verraten

US-Spezialkräfte der Delta-Force-Einheiten haben bei einer Kommandoaktion gegen den IS-Finanzchef sieben Terabyte Datenmaterial erbeutet. Die könnten Aufschluss über die weiteren Pläne des IS liefern. Von Ansgar Graw

Elitesoldaten der amerikanischen Delta Force haben bei einer Kommandoaktion im östlichen Syrien gegen den Islamischen Staat (IS) vier bis sieben Terabyte an aufschlussreichen Daten über die Finanzgeschäfte der Terrormiliz und die Sicherheitsvorkehrungen ihres Führers Abu Bakr al-Bagdadi auf Laptops und Smartphones sichergestellt. Die gewonnenen Informationen haben bereits zu erfolgreichen weiteren Angriffen auf IS-Kommandanten geführt. Das berichtet die "New York Times" (Link: http://www.nytimes.com/2015/06/09/world/middleeast/us-raid-in-syria-uncovers-details-on-isis-leadership-and-finances.html?_r=0) unter Berufung auf namentlich nicht genannte US-Regierungsquellen. Ein Terabyte entspricht einer Billiarde Bytes.

Die Aktion der Delta Force, einer Spezialeinheit der US-Armee, fand am 16. Mai statt, dem Vernehmen nach auf direkte Anordnung von Präsident Barack Obama. Dabei wurde der Tunesier Fathi ben Awn ben Jildi Murad al-Tunisi getötet, den die US-Geheimdienste zunächst unter dem Decknamen Abu Sayyaf als eine Art Finanzchef des IS vorstellten. Er soll für die Abwicklung von Ölgeschäften und für Entführungen gegen Lösegeldforderungen verantwortlich gewesen sein. Seine irakische Frau Umm Sayyaf wurde festgenommen und wird seitdem verhört.

Mit Hilfe der bei dieser Aktion erbeuteten Informationen sei am 31. Mai ein Luftschlag gegen einen weiteren IS-Führer in Ash Shaddadi nahe dem nordostsyrischen al-Hasaka durchgeführt worden, nämlich gegen den als "einflussreich" beschriebenen Leutnant Abu Hamid. Die US-Militärs seien überzeugt, dass Hamid dabei getötet wurde, doch sei dies seitens des IS bislang nicht bestätigt worden. Hamid sei als Emir unter anderem für die Durchsetzung der Scharia in seiner Region zuständig gewesen.

Islamisten aus aller Welt strömen zum IS

Die US-Offiziellen räumen aber zugleich ein, dass es trotz dieser Erfolge und der erbeuteten Daten bislang nicht möglich gewesen sei, dem Kampf gegen den IS eine entscheidende Wende zu geben. Offenkundig erobern die Islamisten dank des Zustroms Tausender Kämpfer aus aller Welt mehr Gebiete in Syrien und dem Irak, als ihnen durch die Koalition an anderen Fronten abgenommen wird.

Am Kampf gegen IS sind neben den USA unter anderem Jordanien, Marokko, Bahrain, Katar, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate sowie Kanada und Großbritannien beteiligt. Deutschland hilft bei der militärischen Ausbildung irakischer Truppen und liefert zudem Waffen an die kurdischen Peschmerga-Verbände. Auch der Iran bekämpft IS-Milizen im Irak. Eine Zusammenarbeit mit der US-geführten Koalition oder ein Austausch geheimdienstlicher Erkenntnisse gebe es aber nicht, wird in Washington wie in Teheran versichert.

Multinational und brutal

Vorige Woche hatte Justin Siberell von der Abteilung für Terrorismusbekämpfung des State Department bei einer Budgetanhörung im US-Repräsentantenhaus gesagt, bis zum März 2015 seien über 20.000 ausländische Kämpfer aus über 100 Ländern nach Syrien gereist. "Das übertrifft die Zahl ausländischer terroristischer Kämpfer, die nach Afghanistan und Pakistan, den Irak, Jemen oder Somalia irgendwann in den letzten 20 Jahren reisten", sagte Siberell. Viele dieser Kämpfer schlössen sich den IS-Milizen an.

Die Organisation knüpfe zunehmend Kontakt zu gleich gesinnten Gruppen wie Ansar al-Scharia, die gegenüber IS bereits im Oktober 2014 einen Treueschwur leistete, und Ansar Bait al-Maqdis, die vor allem vom Sinai aus agiert. Im Januar war zudem die Gründung eines IS-Ablegers in Afghanistan und Pakistan verkündet worden. Im März schloss sich die nigerianische Terrorgruppe Boko Haram per Video dem IS an, was seitens al-Bagdadis akzeptiert wurde.

Besonders wichtig dürften daher für den Kampf gegen den IS die Informationen sein, die sich aus den erbeuteten Daten über al-Bagdadi gewinnen lassen. Dabei geht es nicht zuletzt um Bemühungen des Irakers, sich vor den Nachforschungen der Koalitionskräfte zu verbergen. Al-Bagdadi hatte den Amerikanern bei seiner Entlassung aus einem Gefangenenlager im Jahr 2009 ein "Wiedersehen in New York" (Link: http://www.thedailybeast.com/articles/2014/06/14/isis-leader-see-you-in-new-york.html) angekündigt.

Frauen für IS-Organisation sehr wichtig

Der IS-Chef soll sich in regelmäßigen Abständen mit regionalen Führern in seinem Hauptquartier im ostsyrischen Rakka treffen, heißt es in dem Artikel. Um sich gegen eine Ortung durch Handys abzusichern, würden vertrauenswürdige Fahrer diese mächtigen Lokalfürsten an bestimmten Orten abholen und deren Handys und andere elektronische Geräte zuvor einsammeln und sicherstellen.

Die Frauen von IS-Führern spielten eine wichtigere Rolle als bislang angenommen. Sie gäben Informationen untereinander mündlich weiter und ließen sie schließlich ihren Ehemännern zukommen. Durch diese Mundkette soll vermieden werden, dass Geheimdienste Kommunikation über Telefon oder E-Mail abfangen. "Jeden Tag wird das Bild klarer, was das für eine Organisation ist, wie ausgeklügelt sie ist, wie global und wie vernetzt sie ist", zitiert das Blatt einen nicht genannten Vertreter des US-Außenministeriums.

Anonyme US-Geheimdienstler versichern, wesentlich zum Erfolg der Kommandoaktion gegen Abu Sayyaf habe auch die sogenannte Human Intelligence beigetragen, also Informationen von menschlichen Quellen. "Mindestens ein Informant tief in der Gruppe" habe dabei eine entscheidende Rolle gespielt. Überprüfen lässt sich diese Angabe nicht. Dass aber die Sicherstellung der enormen Datenmenge und die Verhaftung der Frau des IS-Finanzmanagers ein deutlicheres Bild der Organisation zulässt, ist ausgesprochen wahrscheinlich.