Die
Presse, 10.06.2015 http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/4750730/Der-einsame-Krieg-der-Kurden-gegen-den-ISJihad Der einsame Krieg der Kurden gegen den IS-Jihad Ein Jahr lang schon befindet sich die irakische Metropole Mossul in IS-Händen. Dort versuchen Peschmerga-Milizen, den Vormarsch der Jihadisten zu bremsen – aus Bagdad kommt kaum Hilfe. unserem Mitarbeiter Martin Gehlen (Die Presse) Miktar Hassan wirkt noch benommen. Sechs Kameraden umringen das Bett des Peschmerga-Hauptmanns, einer am Kopfende fächelt dem Verletzten mit einem Karton Luft zu. „Plötzlich standen die beiden Selbstmordattentäter vor uns“, berichtet er der Runde. Den einen konnten seine Männer erschießen, der andere zündete seine Ladung und verletzte vier der überrumpelten Verteidiger. Sekunden später tauchten wie aus dem Nichts ein Dutzend weiterer IS-Kämpfer auf, die das Feuer eröffneten. Fünf Stunden dauerten die Haus-zu-Haus-Gefechte im Dorf Sahl al-Maleh nördlich von Tal Afar, bis die Peschmerga, die eilends US-Jets hereintelefonierten, die Eindringlinge vertreiben konnten. Offiziell gab es zehn Verwundete in den eigenen Reihen. Über die unbekannte Zahl von Toten, von denen der lokale Rundfunk spricht, will niemand hier im Krankensaal reden. 14 Jihadisten-Leichen blieben in der Ortschaft zurück, deren arabische Bewohner dem IS bei seinem Hinterhalt geholfen haben sollen. Im TV am Abend werden Dutzende festgenommene Männer gezeigt, die auf dem Dorfplatz mit gesenkten Köpfen auf dem Boden hocken. Miktar Hassan traf eine Kugel ins Bein, als er einen der Verwundeten in Deckung ziehen wollte. Seine Frau Nisal arbeitet einen Stock höher als Krankenschwester. Anderthalb Autostunden ist die helle, große Notaufnahme für Peschmerga-Kämpfer im Tawari-Hospital von Dohuk von der Front entfernt. Zwischen den zwanzig Betten wimmelt es von Angehörigen und Ärzten. Hastig routiniert macht der Bezirksparteichef von Kurdenpräsident Massoud Barzani die Runde und tätschelt jedem frisch Eingelieferten die Stirn. Ein Schwerverletzter mit Bauchschuss wird stöhnend in die Intensivstation gerollt. Einem 29-Jährigen, dessen vier jüngere Brüder ebenfalls Peschmerga sind, hat eine Panzerflak das halbe Ohr und einen Teil des Kieferknochens weggeschlagen. Ein Bett weiter, umringt von weiblicher Verwandtschaft, wartet ein Maturant, der aus einer alteingesessenen Dohuker Familie stammt und als Spotter Ziele für die US-Kampfjäger bestimmte, auf die Notoperation. Er wurde von einem Jihadi in den Fuß geschossen. 1200 Peschmerga sind bisher im Kampf gegen den IS gefallen, mehr als 5000 wurden verwundet. Anfangs trieben die bärtigen Eroberer auch kurdische Einheiten vor sich her. Inzwischen hat sich die Front stabilisiert, an der es nach wie vor täglich zu Gefechten kommt. Vor allem die 60 schultergestützten, deutschen Milan-Raketensysteme haben geholfen, die zunächst hohen Verluste der Kurden zu begrenzen. Damals griff der IS mit monströsen Geschwadern von bis zu 20 durch Eisenplatten verpanzerten Sprengstoff-Lastwagen an, rollende Bomben, die mit herkömmlichen Panzerfäusten nicht zu stoppen waren. Milan dagegen trifft auf zwei Kilometer, weit genug entfernt von den kurdischen Linien, so dass die tödliche Ladung keinen Schaden anrichten kann. Nach eigenen Angaben haben die Kurden inzwischen 20.000 Quadratkilometer vom IS zurückerobert, auch wenn sie letzten Sommer beim ersten Ansturm der Gotteskrieger in der Ninive-Ebene genauso davonliefen wie ihre Waffenbrüder von der irakischen Armee. „Dieser Krieg kam für uns wie aus heiterem Himmel, inzwischen haben wir uns auf den Gegner besser eingestellt“, argumentiert Peschmerga-Minister Sayid Qadir Mustafa (56), der um die Schwächen seiner Streitmacht weiß. Der drahtige Mann tritt unprätentiös auf und hat im kurdischen Widerstand eine Musterkarriere vorzuweisen. 23 Jahre lang war er Partisan gegen Saddam Hussein. Den Kerker Abu Ghuraib überlebte er nur, weil seine Schergen nicht den wirklichen Namen aus ihm herausprügeln konnten. Die größte Feuerprobe seines Lebens aber bestand er letztes Jahr im Sommer, als ihm – gerade frisch im Amt – mit seinen Leuten die Verteidigung von Erbil gegen die schwarzen Jihadisten-Bataillone aus dem 80 Kilometer entfernten Mossul gelang. (c) Die Presse Bild vergrößern / Bild: (c) Die Presse Ein Jahr lang befindet sich die zweitgrößte irakische Stadt schon in der Hand der Terrormiliz. Mehr als drei Millionen Iraker sind seitdem vertrieben worden, die Hälfte hat im kurdischen Norden Schutz gesucht. Und anders als bei früheren Krisen ist unabsehbar, wie lange das Exil in Lagern, Rohbauten und Privatquartieren diesmal dauern wird. Solange der IS die Zwei-Millionen-Metropole beherrscht, können die Vertriebenen nicht zurück in ihre Dörfer und Stadtviertel und werden die Angriffe auf Peschmerga-Stellungen anhalten. „Die Befreiung von Mossul ist wichtig für die Zukunft des Irak, und sie ist genauso wichtig für uns Kurden“, sagt Mustafa. Veteranen wie er kämpften ihr Leben lang in den Bergen, mit leichten Waffen, vielen Verstecken und Rückendeckung der Bevölkerung. Der kurdische Nachwuchs aber hat sich an das Post-Saddam-Wohlleben gewöhnt, ist schlechter trainiert und bestenfalls noch eine Truppe von Grenzsoldaten. Offensivmanöver beherrschen die Teilzeit-Soldaten nicht. Die Ebene ist ihnen unheimlich: Mal nehmen Sandstürme oder Nebelbänke den Verteidigern die Sicht. Mal fällt ihnen die sunnitisch-arabische Bevölkerung in den Rücken, indem sie – wie in dem Dorf Sahl al-Maleh – mit dem IS gemeinsame Sache macht. Und so werden die Aussichten für eine Rückeroberung Mossuls im Herbst, wie sie Bagdad angekündigt hat, immer geringer. Die irakische Armee ist nach den Rückschlägen in Ramadi demoralisiert und reibt sich in der Anbar-Provinz im Westirak auf. Ohne Hilfe schiitischer Milizen und der US-Luftwaffe geht nichts mehr bei den nationalen Streitkräften, denen sogar Pentagonchef Ashton Carte mangelhaften Kampfeswillen bescheinigte. Auch das im April zurückeroberte Tikrit, der bisher einzige größere Erfolg gegen den IS, wirft Schatten. Racheakte schiitischer Milizen an sunnitische Einwohnern haben auch die letzten vertrieben. Heute ist Saddam Husseins Geburtsort eine Geisterstadt. Trotz dieser miserablen Bilanz hat Bagdad zu der intakten Peschmerga-Armee ein ambivalentes Verhältnis. Einerseits braucht man die motivierten kurdischen Soldaten, um bei Mossul gemeinsam gegen den IS antreten zu können. Andererseits möchte man die Kurden nicht angesichts eines möglichen künftigen Konflikts um die Unabhängigkeit von Kurdistan mit Waffen aufrüsten. Das ganze Jahr 2014, auch nach der IS-Offensive im Sommer, erhielt der Nordirak im Streit um seine Ölexporte keine Mittel aus dem Nationalbudget, was eine Lücke von zwölf Mrd. Dollar riss. Sämtliche Peschmerga bekamen ihr letztes Gehalt im Jänner, die übrigen kurdischen Beamten heuer überhaupt kein Geld. Zugleich reiste Iraks Premier Haider al-Abadi nach Erbil, um sich von Kurden-Präsident Massoud Barzani für eine Rückeroberung Mossuls die militärische Allianz versprechen zu lassen. Entlang der Front jedoch wird schnell klar, wie schwierig das ganze Unterfangen sein wird. Sämtliche Dörfer in der ehemaligen Kampfzone sind zerstört. Inzwischen hat wilder Raps die entvölkerten Orte überwuchert, überall in den gelben Blütenwogen lauern vom IS versteckte Sprengfallen und Minen. Die Bewohner der arabischen Dörfer sind meist nach Mossul geflohen, die kurdischen und jesidischen Bauern nach Kurdistan. Die Straßen im Sperrgebiet entlang der irakisch-syrischen Grenze sind aufgeplatzt und löchrig. Zehn Kontrollpunkte müssen Besucher passieren, um zum Peschmerga-Kommando 12 südlich des Flusses Khabour zu gelangen. Am Eingangstor des Familiengehöfts, das einst einem reichen Stammesscheich gehörte, sind noch die aufgesprühten Parolen „Eigentum des Islamischen Staates“ zu lesen. Im Sandboden festgetreten liegen großkalibrige Duschka-Patronen. Die Wände sind voller Einschüsse von den Kämpfen kurz vor Weihnachten, als die Peschmerga die Jihadisten von hier vertrieben. Im Innenhof steht ein Sammelsurium von Fahrzeugen, zwei Lkw aus US-Beständen, ein Humvee mit kurdischer Standarte, ein nagelneuer Mercedes Unimog und Privatautos. „Ohne die deutschen und US-Waffen hätten wir das nicht geschafft“, sagt Kommandeur Izadin Sadu. Seit einem Vierteljahrhundert ist er bei den Peschmerga. Momentan ist es ruhig an dem 60 Kilometer langen Frontabschnitt. Die meisten seiner 3800 Peschmerga kommen auf eigene Faust zu ihren Zehn-Tages-Schichten oder werden von freiwilligen Taxis gebracht. Von Zeit zu Zeit steigt der Kommandeur auf das Dach, um das nahe syrische Territorium zu inspizieren. Das Steiner-Fernglas aus Deutschland hat ihm sein Sohn gekauft, der in Lübeck studiert. Kommt das Gespräch auf die irakische Armee, wird die Stimme des Generals schneidend. „Sie haben alles Gerät, aber keine Kampfmoral. Wir haben Kampfmoral, aber kein Gerät.“ Offenbar bereitet der IS eine neue Offensive vor. Doch niemand kann sagen, was im Inneren der Stadt wirklich vorgeht, wie viele Bewohner mit den Jihadisten unter einer Decke stecken. Schließlich war Mossul immer eine Hochburg des arabischen Nationalismus und Basis der Baath-Partei. Ohne Kooperation von Ex-Saddam-Getreuer wäre der Erfolg des selbsternannten Kalifen Al-Baghdadi undenkbar gewesen. AUF EINEN BLICK Am 10. Juni 2014 kulminierte die Offensive des IS, der in kürzester Zeit ein Drittel des Irak sowie Gegenden im benachbarten Syrien überrannte, in der Eroberung Mossuls. Zwar konnten die Jihadisten aus einigen Gebieten wieder vertrieben werden, doch bis heute kontrollieren sie einen Großteil des westlichen Iraks. Und trotz monatelanger Luftangriffen der US-geführten Militärkoalition sind die Jihadisten weiter in der Lage, Gebiete zu erobern: In Syrien konnte der sunnitische IS angesichts des Chaos durch den Bürgerkrieg an Boden gewinnen, im Irak profitierte der IS von der Wut sunnitischer Araber auf die schiitisch dominierte Regierung. ("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.06.2015)
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