Frankfurter Rundschau, 09.06.2015

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Angst und Hoffnung in Istanbul

Von Frank Nordhausen

Nach der Wahl ist in der türkischen Metropole die Stimmung unter den Menschen geteilt.

Wir sind überglücklich“ oder „das ist eine absolute Katastrophe“ – zwischen diesen extremen Gefühlen schwanken die Türken am Tag zwei nach der Schicksalswahl vom Sonntag. Während die einen sich wie befreit vorkommen, sind die anderen zu Tode betrübt über das Ergebnis, mit dem die Wähler der seit 13 Jahren regierenden islamisch konservativen AKP und dem übermächtigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan eine deutliche Abfuhr erteilten. Bei der letzten Parlamentswahl 2011 hatte die AKP noch fast die Hälfte der Stimmen geholt, diesmal stürzte sie unter 41 Prozent und kann nicht mehr allein regieren.

„Ich hätte das niemals für möglich gehalten“, sagt die 18-jährige Schülerin Hidra Ferdanu, die im Zentrum Istanbuls auf dem Taksim-Platz am Denkmal für den Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk auf ihre Freundinnen wartet, um einkaufen zu gehen. Mit ihrem bunten Kopftuch, dem langen Jeansrock, über dem sie einen weißen Mantel trägt, ist die zierliche junge Frau schon äußerlich als gläubige Muslimin zu erkennen. Am Sonntag durfte sie zum ersten Mal wählen und hat ihre Stimme der Partei gegeben, die in ihrer Familie aus dem gehobenen Istanbuler Stadtviertel Levent alle wählen: der AKP. „Ich bin total unglücklich“, sagt sie. „Warum haben Leute, die früher AKP wählten, jetzt anders gestimmt? Ich würde das nie tun, denn ich liebe die AKP und unseren Präsidenten Erdogan.“

Nur eine Erklärung für die Niederlage fällt Hidra Ferdanu ein: dass die Wähler untreu wurden, weil Erdogan seit dem letzten August die Partei nicht mehr anführt, sondern zum Staatspräsidenten gewählt wurde. Andererseits glaubt sie, dass die AKP ohne seine massive Wahlhilfe vielleicht noch weniger Stimmen geholt hätte.

Verunsicherung und Angst vor der Zukunft plagen viele Passanten, Händler und Handwerker auf dem Taksim-Platz an diesem sonnigen Tag. Und nicht wenige glauben wie Hidra Ferdanu, dass die Kurden schuld sind am heraufziehenden Chaos. „Die HDP zerstört alles“, diese Meinung vertritt der Schuhputzer Mehmet, 45, ein hagerer Mann mit grauem Dreitagebart, der seinen goldglänzenden Putzkasten direkt vor der Filiale der Kaffeekette Starbucks aufgebaut hat. Er hat zwar die sozialdemokratische CHP gewählt, die rund 25 Prozent der Stimmen gewann, hätte sich aber trotzdem eine Fortsetzung der AKP-Alleinherrschaft gewünscht, weil dann Ordnung und Sicherheit herrsche.

Wähler zwingen AKP zum Kompromiss

Mehmet überlegt einen Moment. Dann sagt er, in Wahrheit trage der Präsident die Schuld an dem undurchsichtigen Wahlergebnis, das keiner Partei die absolute Mehrheit brachte. Er habe die Menschen mit aller Macht zu einem Präsidialsystem zwingen wollen, das vielen nicht geheuer sei. Laut Verfassung müsse er aber neutral sein. „Das ist er nicht. Er sollte jetzt zurücktreten.“ Da die Lage nun einmal sei, wie sie sei, sollten die Parteien jetzt das Beste daraus machen: eine große Koalition von AKP und CHP, die das Volk versöhne.

Von einem versöhnenden Wahlergebnis, das die Parteien zum Kompromiss zwinge, sprechen auch zwei junge Kurden, die gerade auf ihren Smartphones die neuesten Facebook-Posts lesen. Erdogan stehe für eine unheilvolle Polarisierung der Gesellschaft. „Davon haben die Leute die Nase voll“, sagt die 19-jährige Psychologiestudentin Pinar. Ihr Freund Baran, ein Hilfsarbeiter, nickt zustimmend. Die junge Frau, die sich als gläubig bezeichnet, hätte der Religion wegen lieber die AKP gewählt, wie viele ihrer konservativen Freunde und Verwandten. „Doch Erdogan hat die Kurden verraten, als er sagte, es gibt kein Kurdenproblem. Deshalb sind viele zur HDP gewechselt.“ Beide sind glücklich über den Erfolg der HDP, wenn auch traurig über die Reaktion in den sozialen Netzwerken: „Auf Facebook und Twitter wird nur noch gegen uns Kurden gehetzt. Die Leute schreiben, dass die HDP aus Terroristen besteht und verboten werden muss.“

Noch haben die Koalitionsverhandlungen gar nicht begonnen. Doch haben Vertreter aller vier ins Parlament gewählten Parteien ihre Bereitschaft dazu erklärt – das Problem sind die Bedingungen, die sie stellen. So vertreten die Nationalreligiösen von der AKP und die eher säkularen Nationalisten von der MHP zwar viele gemeinsame konservative Werte und wären natürliche Koalitionspartner, doch scheinen ihre Standpunkte in der Kurdenfrage unüberwindbar. Die AKP will den Friedensprozess unbedingt fortsetzen, die MHP will ihn unbedingt stoppen.

Die Wähler sind da möglicherweise schon weiter. Zum Beispiel Rami Mutlu, 65, Metallarbeiter im Ruhestand. Der hagere Mann mit Brille und schlechten Zähnen hat früher für die AKP gestimmt und diesmal für die MHP, die mit 80 Parlamentssitzen ebenso viele Mandate wie die kurdische HDP gewann. Er wäre kompromissbereit. „Wir brauchen nicht noch mehr Polarisierung. Wir brauchen Versöhnung. Chaos ist schädlich für das Land und vor allem für die Wirtschaft.“

Diesen Satz würden sicher auch alle Geschäftsleute am Taksim-Platz und in der angrenzenden Fußgängerzone Istiklal Caddesi unterschreiben. Der 34-jährige Filialchef der Baklava-Süßwarenkette Seyidoglu betrachtet das Wahlergebnis vor allem vom Standpunkt des Kaufmanns. „Ich bin sehr unglücklich“, sagt er, „denn die Wahlen haben uns Unsicherheit gebracht.“

Drei 20-jährige Studenten, die gerade in einer Seitengasse der Istiklal Caddesi Tee trinken, würden ihm da vehement widersprechen. Obwohl sie keine Kurden sind, haben sie alle die prokurdische HDP gewählt, weil sie Erdogans autoritäre Politik satt haben. „Der Präsident stürzt unser Land ins Chaos, nicht die Wähler“, sagt Bahadir Vatan, der Umwelttechnik in Istanbul studiert. „Die Menschen wollen Demokratie, keine Diktatur. Deswegen haben sie gegen Erdogan gestimmt.“ Die drei Studenten hatten sich 2013 an der Gezi-Protestbewegung beteiligt und glauben, dass der erstaunliche Wechsel auch mit ihrem Aufstand gegen Erdogan zu tun habe: „Bei Gezi haben die Leute gemerkt, dass sie etwas erreichen können, wenn sie sich zusammenschließen. Genau das haben sie jetzt wieder getan.“