FAZ, 10.06.2015

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Wahlausgang in der Türkei

Demokratie ist Zeitverschwendung

Der ehemalige Staatspräsident Gül wirbt nach der Wahl in der Türkei für eine Koalition. Von der AKP kontrollierte Medien haben Mühe, sich an den Gedanken zu gewöhnen.

von Michael Martens, Istanbul

Die „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ wurde nicht abgewählt bei der türkischen Parlamentswahl am 7. Juni, sondern nur auf Normalmaß zurechtgestutzt – aber auch das hinzunehmen fällt manch einem AKP-Politiker oder Kolumnisten schwer. Wie ein roter Faden ziehen sich Warnungen vor der schwierigen, ja unlösbaren Aufgabe von Koalitionsverhandlungen durch Kommentare in Zeitungen und Sendern, die von der AKP kontrolliert werden. Das Blatt „Sabah“ machte am Dienstag nach bekanntem Muster dunkle ausländische Feinde der Türkei dafür verantwortlich, dass die AKP am Sonntag zwar mit 40,9 Prozent der Stimmen stärkste Kraft wurde, aber nur 259 von 550 Parlamentssitzen erhielt und damit ihre absolute Mehrheit eingebüßt hat. Bei „Sabah“ hieß es: „Leider wird die Türkei aufgrund dieses Wahlergebnisses Zeit verschwenden. Es wird nicht leicht sein, eine neue Koalitionsregierung zu bilden.“ Die Ansicht, dass zu viel Zeit verlorengehe oder gar vergeudet werde, wenn sich statt einer Einparteienregierung nur durch Koalitionsverhandlungen ein Kabinett bilden lässt, zog sich sinngemäß durch viele Beiträge im interpretatorischen Paralleluniversum der AKP. Demokratie ist Zeitverschwendung, so lautete kaum zugespitzt die Quintessenz solcher Beiträge.

Michael Martens Autor: Michael Martens, Politischer Korrespondent für südosteuropäische Länder mit Sitz in Istanbul. Folgen:

Was Recep Tayyip Erdogan dazu denkt, der als Staatspräsident sowie alles bestimmende Reizfigur Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzungen war und sie unfreiwillig zuungunsten der AKP entschieden hat, ist unbekannt. Bis auf eine betont staatsmännische Stellungnahme hat er sich seit dem Wahltag nicht öffentlich geäußert. Angesichts von Erdogans medialer Omnipräsenz in den vergangenen Wochen, als der Staatspräsident täglich bis zu drei meist im Fernsehen übertragene Wahlkampfauftritte absolvierte, sind Entzugserscheinungen bei seinen Anhängern zu befürchten. So ungewöhnlich ist Erdogans Verschwinden aus dem öffentlichen Raum, dass es im Internet bereits eine Zeitanzeige nach Art der ewigen Bundesliga-Uhr des HSV gibt: „Präsident Erdogan nicht auf Sendung seit ...“ steht dort, und darunter läuft die Zeit.

Rolle von AKP-Mitgründer Gül offen

Erdogans Vorgänger hat sich unterdessen schon geäußert. Abdullah Gül, ein Mitgründer der AKP, der nach seinem Ausscheiden aus dem Amt des Staatspräsidenten im vergangenen Jahr von Erdogan systematisch an den Rand gedrängt wurde und nun nicht einmal Parlamentsabgeordneter ist, sprach sich für Koalitionsverhandlungen aus. „Wir leben nun einmal in einem Mehrparteiensystem. Solche Ergebnisse kann es immer geben. (...) Es sollte versucht werden, eine Regierung zu bilden“, zitierte die Zeitung „Hürriyet“ den bekanntesten Privatier des Landes. Über Güls künftige Rolle wird derzeit viel spekuliert. Gül hatte kurz vor dem Ende seiner Präsidentschaft gesagt, dass er die AKP weiterhin als seine politische Heimat betrachte, doch Erdogan gelang es, ihn von der Parteispitze fernzuhalten. Er legte den Parteitag, an dem er den Vorsitz auf Ahmet Davutoglu übertrug, auf einen der letzten Tage von Güls Präsidentschaft, so dass dieser keine Gelegenheit hatte, selbst ein Amt in der AKP zu übernehmen. Gül zog sich daraufhin zurück, man sah und hörte ihn kaum.

Als er im Februar die Gründung einer Stiftung bekanntgab, die sich für eine Stärkung von Gewaltenteilung und Rechtsstaat einsetzen werde, wurde das von manchen als direkte Kritik an Erdogan, gar als Vorstufe zur Gründung einer neuen Partei interpretiert. Gül selbst wies das stets zurück. Die Gerüchte wurden aber auch dadurch genährt, dass Gül im jüngsten Wahlkampf nicht an einer einzigen AKP-Veranstaltung teilnahm, nicht einmal in seiner Heimatprovinz Kayseri. Dass Firmen von Güls Bruder Macit jüngst ins Visier der Steuerfahndung gerieten, wurde als Bestätigung für ein Zerwürfnis zwischen Gül und Erdogan gesehen, da es eine bewährte Taktik der AKP ist, Gegner mit Steuerverfahren zu überziehen.

Letztlich gibt es zur künftigen Rolle Güls aber nur Spekulationen, wie auch zu vielen anderen Fragen zur Zukunft der AKP. Hatte Ministerpräsident Ahmet Davutoglu im Wahlkampf nicht gesagt, sollte er die absolute Mehrheit verfehlen, werde er zurücktreten? Wer wird in der AKP für den Verlust der alleinigen Macht verantwortlich gemacht werden? Davutoglu, mit dem als Spitzenkandidaten die AKP erstmals in ihrer Geschichte die absolute Mehrheit verfehlte? Oder Erdogan, der nicht nur seiner Partei, sondern auch dem Ansehen des höchsten Staatsamts bleibenden Schaden zugefügt hat? Wird die Basis Erdogan retten und dafür die Zukunft der AKP gefährden, oder wird sie versuchen, die AKP zu retten, und dafür deren Übervater preisgeben? Das sind offene Fragen. Nur der zeitliche Rahmen steht fest. Noch in diesem Monat muss das Parlament laut Verfassung zu seiner konstituierenden Sitzung zusammenkommen und bis zum 4. Juli ein Parlamentspräsident gewählt sein. Bis zum 18. August muss eine neue Regierung gebildet sein, allfällige Neuwahlen müssten bis zum 22. November stattfinden. Im schlechtesten Fall stünde der Türkei also ein fast sechsmonatiges Interregnum bevor, was AKP-Politiker seit Sonntagabend gern hervorheben – das komme davon, wenn der Wähler keine klaren Mehrheiten schaffe.

AKP drohen erneute Korruptionsermittlungen

Die Mehrheitsverhältnisse lassen, bevor es zu Neuwahlen kommt, zumindest theoretisch ein halbes Dutzend Koalitionsszenarien zu, wobei die meisten nur mathematisch denkbar und alle politisch heikel sind. Für die AKP ist vor allem eine Entwicklung potentiell gefährlich: Verliert die Partei die Kontrolle über die Justiz, könnte es zu einer Wiederaufnahme der Korruptionsermittlungen gegen mehrere ihrer führenden Politiker sowie gegen Erdogans Sohn Bilal kommen. Im Dezember 2013 war eine Reihe abgehörter Telefongespräche von anonymen Tätern im Internet veröffentlicht worden, die einen Abgrund von Korruption und Vetternwirtschaft in Teilen der AKP offenbarten. Die Umwidmung von Naturschutzgebieten in Bauland gegen reichliche Bezahlung durch Investoren gehörte noch zu den harmlosen Vorwürfen. Es kam zu zwei Verhaftungswellen am 17. und 25. Dezember. Als sie sich von dem ersten Schreck erholt hatte, behinderte die AKP die weiteren Ermittlungen mit aller Macht, ließ beteiligte Staatsanwälte strafversetzen, bedrohte andere oder ordnete ihnen regierungstreue Beamte als Vorgesetzte zu. Im Oktober 2014 erreichte die Regierungspartei die Einstellung aller Ermittlungen. Zur Begründung hieß es unter anderem, das Beweismaterial sei nicht ausreichend und zudem unsachgemäß zusammengetragen worden. Alle Oppositionsparteien haben ihren Wählern versprochen, sich für eine Neuaufnahme der im Keim erstickten Ermittlungen einzusetzen.

Es könnte die AKP in ihren Grundfesten erschüttern, wenn es tatsächlich so käme. Die Wiederaufnahme von Ermittlungen ist eines der wenigen Ziele, die die drei heterogenen Oppositionsparteien verbinden. Erdogan ist die Klammer, die die ungleiche Opposition zusammenhält. Wird er schwächer, gilt das auch für den losen Zusammenhalt der Opposition. „Erdogan sitzt jetzt im Epizentrum all der Wut und des Hasses, den er bei vielen sozialen Gruppen angesammelt hat“, hieß es dazu in einem türkischen Zeitungskommentar. In der Tat: Es war Erdogan, der durch seine aggressive Rhetorik der „Demokratischen Partei der Völker“ (HDP) des neuen Oppositionsstars Selahattin Demirtas zum Einzug ins Parlament verhalf.

Das demokratischste Parlament aller Zeiten

Dort werden künftig mehr als 95 Prozent der abgegebenen Stimmen repräsentiert sein. Das ist ein Rekordwert für die Türkei, wo die nach dem Militärputsch in den frühen achtziger Jahren eingeführte Zehnprozenthürde schon oft dafür gesorgt hat, dass mehr als die Hälfte der abgegebenen Stimmen nicht im Parlament vertreten war, weil sie einer Partei galten, die an der hohen Sperrklausel gescheitert war. So gesehen ist die am Sonntag mit einer für westliche Demokratien beneidenswert hohen Wählerbeteiligung von 86 Prozent gewählte neue Volksversammlung das demokratischste Parlament der Geschichte der Türkei. Das bedeutet freilich auch, dass all die Brüche und ungelösten Konflikte des Landes stärker denn je im Parlament vertreten sind.

Vor allem für die HDP ist der Erfolg vom Sonntag zugleich eine schwere Bürde. Nachdem sie die Gunst der Stunde genutzt hat, muss sie sich entscheiden, ob sie eine kurdische Partei mit linker Note oder eine linke Partei mit kurdischer Note sein will. Die Analyse der Wählerwanderungen vom Sonntag zeigt, dass es keineswegs nur Wähler der vermeintlich linken „Republikanischen Volkspartei“ gewesen sind, die der HDP mit ihrem dezidiert linken Programm die Stimme gaben. Im Gegenteil, einen Großteil ihres Erfolges verdankt die HDP konservativen kurdischen Wählern in Südostanatolien sowie in den großen Metropolen der Westtürkei, die noch 2011 AKP gewählt hatten. Deshalb kann der Erfolg der HDP nicht umstandslos als Durchbruch einer linken Politik gewertet werden. Es ging den meisten HDP-Wählern darum, einen übermächtigen Staatspräsidenten Erdogan zu verhindern. Schon bei der nächsten Wahl, wenn das Erdogan-Gespenst nicht mehr umgeht, könnte die HDP viele dieser Stimmen wieder verlieren. Auch das wird Demirtas bei etwaigen Koalitionsverhandlungen bedenken müssen.

Eines ist bei alledem aber beruhigend: Wie turbulent die kommenden Monate auch werden mögen, ein Putsch des Militärs ist unwahrscheinlich. In der Türkei taucht nicht einmal der Gedanke daran in den Diskussionen über die zu erwartenden Szenarien auf. Die Angst der Bürger vor der Armee ist verflogen – und das hat die Türkei Erdogan sowie der AKP zu verdanken.