welt.de, 08.06.2015

http://www.welt.de/finanzen/article142156949/Nach-der-Wahl-droht-der-Tuerkei-der-Wirtschafts-Crash.html

Kapitalschwund

Nach der Wahl droht der Türkei der Wirtschafts-Crash

Wegen der unklaren politischen Lage nach der Wahl ziehen Anleger ihr Kapital ab. Hält der Trend an, kann das dramatische Folgen haben: Die Reserven der Notenbank reichen allenfalls ein paar Monate.

Von Frank Stocker

Freudenfeuer und Jubelfeiern in den kurdisch dominierten Provinzen. Katerstimmung an der Istanbuler Börse. Das sind die beiden Seiten nach der Wahl in der Türkei. Die regierende AKP von Präsident Erdogan hatte am Sonntag ihre absolute Mehrheit verloren, und die kurdische HDP zog erstmals ins Parlament ein.

Das Verdikt des Finanzmarktes dazu war eindeutig: Bis zu acht Prozent brach der Aktienmarkt am Montag ein, die Renditen türkischer Staatsanleihen schossen in die Höhe, und die türkische Lira verlor bis zu fünf Prozent, so dass sie gegenüber dem Dollar auf ein neues Rekordtief fiel. Am Ende des Handelstages hatten sich die Kurse zwar wieder ein wenig erholt, die Stimmung blieb aber gedrückt.

Investoren wollen Stabilität und Klarheit

"Erstmals seit 13 Jahren kann die AKP nicht alleine regieren und ist auf einen Koalitionspartner angewiesen", erklärt Gregor Holek, Schwellenländerexperte bei Raiffeisen Capital Management, diese Reaktion. "Und Investoren scheuen Unsicherheit." Das sieht Viktor Szaba, Anlagemanager bei Aberdeen Asset Management ähnlich. "Das Wahlergebnis mag langfristig positiv für die Türkei sein, wenn dadurch Erdogans autokratische Tendenzen im Zaum gehalten werden." Kurzfristig wollen die Investoren jedoch vor allem stabile und klare Verhältnisse. Im Zweifel auch mit einem selbstherrlichen Führer an der Spitze.

Doch die Verhältnisse sind jetzt alles andere als klar. Zwar wäre die kurdische HDP eigentlich ein potenzieller Koalitionspartner für Erdogans AKP gewesen. In den vergangenen Wochen und Monaten hatten sich zwischen den beiden Lagern jedoch Gräben aufgetan, die nur schwer wieder zuzuschütten sind. Daher spricht inzwischen vieles dafür, dass die AKP sich eher mit der nationalistischen MHP zusammen tut. "Das wäre ein zweischneidiges Schwert", sagt Lubomir Mitov von der UniCredit (Link: http://www.welt.de/themen/unicredit/) . Denn wirtschaftspolitisch wäre die MHP wohl ein Gewinn. Gleichzeitig ist sie jedoch gegen jedwedes Zugeständnis an die Kurden, so dass dieser Konflikt wieder hochkochen könnte. "Das könnte zu einem Wiederaufflammen der Feindseligkeiten im Südosten des Landes führen."

Und schließlich gäbe es als dritte Alternative noch eine Koalition von MHP und HDP mit der größten Oppositionspartei CHP. Dann wäre die AKP komplett ausgebootet. Allerdings war die CHP zuletzt auch nicht gerade durch wirtschaftspolitischen Sachverstand aufgefallen. So hatte sie vor der Wahl den Plan verkündet, irgendwo mitten im Land eine neue Stadt bauen zu wollen. 160 Milliarden Dollar würde sie dafür gerne ausgeben und so 2,2 Millionen neue Jobs schaffen. Damit wollte sie auf etwas plumpe Art Erdogans Mega-Projekte toppen.

Zinserhöhungen in USA würden Lage verschärfen

Kurz: Die Koalitionsbildung dürfte langwierig und schwierig werden. "Unter diese Umständen wird es am türkischen Finanzmarkt weiter turbulent bleiben, mit anhaltendem Druck auf Währung und Aktienpreise", warnt Mitov. Und dieser dürfte sich noch verstärken, wenn die Koalitionsverhandlungen komplett scheitern und es zu Neuwahlen kommt. Diese müssten anberaumt werden, wenn auch nach 45 Tagen keine neue Regierung steht.

Besonders dramatisch könnte es jedoch werden, wenn parallel zur unklaren politischen Lage in Ankara die amerikanische Notenbank endlich Ernst macht mit der lange erwarteten Zinswende. Denn die Türkei gehörte in den vergangenen Jahren zu den größten Profiteuren der Nullzinspolitik. Investoren suchten nach alternativen Anlagemöglichkeiten und fanden sie in Istanbul. Viel Kapital floss ins Land, und der Türkei fiel es somit leicht, ihr traditionell großes Leistungsbilanzdefizit auszugleichen.

Doch sollten nun die Zinsen in den USA steigen, würden Anleger ihr Geld lieber wieder dort anlegen, der Kapitalfluss aus den USA in die Schwellenländer würde abebben. Als Reaktion würde der Wertverfall der Lira weitergehen und die türkische Notenbank müsste letztlich ebenfalls die Zinsen anheben. Lubomir Mitov fürchtet, dass dies die türkische Wirtschaft regelrecht stranguliert. "Das Ergebnis wäre eine Rezession." Und schlimmer noch: Der türkischen Notenbank könnte aufgrund ihrer geringen Reserven schnell das Geld ausgehen. "Das Polster reicht allenfalls für ein paar Monate."

Schon jetzt schwächelt die Wirtschaft

Damit wäre das türkische Wirtschaftswunder der vergangenen anderthalb Jahrzehnte – zweifellos eines der großen Verdienste Erdogans – jedoch endgültig am Ende. Schon jetzt schwächelt die Konjunktur. 2010 und 2011 hatte das Wachstum noch jeweils rund neun Prozent betragen, im vergangenen Jahr waren es weniger als drei Prozent. "Die Wirtschaft hat an Wachstumsdynamik eingebüßt, da wichtige Exportmärkte einschließlich der EU und Russlands stagnieren", sagt Erdinç Benli, Fondsmanager bei der Anlagegesellschaft GAM.

Doch das ist nicht der alleinige Grund. Die Alleinherrschaft Erdogans, verbunden mit seiner Günstlingswirtschaft, hat in den vergangenen Jahren zu einer zunehmenden Oligarchisierung geführt. "Eine kleine Zahl von Familien dominiert die meisten Geschäftsfelder", sagt Viktor Szabo.

Genau deshalb ist der Wahlausgang langfristig aber auch eine Chance für die Türkei. Denn dadurch wird die autoritäre Herrschaft Erdogans nicht nur politisch gebrochen. Auch wirtschaftspolitisch ergibt sich nun die Chance für eine Öffnung.

Im Chaos liegt auch eine Chance

Die kommenden Wochen dürften daher zwar turbulent werden, mit entsprechenden Schwankungen am Aktien- und Devisenmarkt. Idealerweise könnte dies aber auch eine Phase der Neuorientierung werden, in der sich die AKP von ihrem Übervater Erdogan emanzipiert.

Und eine sich verschärfende Krise würde eine neue Regierung zwingen, persönliche Animositäten und ideologische Barrieren zu überwinden, um pragmatisch und schnell Reformen einzuleiten. So könnte die schwierige politische Lage nach dieser Wahl für Wirtschaft und Investoren am Ende doch noch positive Folgen haben. "Mittel- bis langfristig würde ein solches Szenario tatsächlich zu einer besseren Politik führen und Fortschritte in der Türkei fördern", hofft jedenfalls Fondsmanager Benli.