Der Standard, 12.06.2015

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Türkei: Parteien wollen "gefesselten" Erdogan

Markus Bernath aus Istanbul

Kommt eine Koalition zustande, muss sich der Präsident auf seine Verfassungsrolle beschränken. Sein Premier dürfte darüber nicht unglücklich sein

Vor einer Woche hat er noch ausgeteilt, die politischen Gegner niedergemacht, seine Zuhörer aufgepeitscht. Nun sitzt er auf einem Besuchersessel und versucht ein Lächeln. Tayyip Erdogan hat seinen Charme angeknipst. Deniz Baykal, den früheren Vorsitzenden der säkularen Oppositionspartei CHP, der nun als ältester Abgeordneter das neugewählte türkische Parlament eröffnen wird, lud er am Mittwoch zu einem Gespräch.

Erdogan tat das an einem neutralen Ort in Ankara. Nicht im Präsidentenpalast, der wegen seines Prunks und der fehlenden Baugenehmigung zum Politikum geworden ist, sondern in der Residenz des Außenministeriums. So zuvorkommend kann Erdogan sein.

Offen für alle Koalitionen

Baykal, der 2010 aufgrund eines Sexvideos zum Rücktritt vom Parteivorsitz gezwungen worden war, lanciert von politischen Feinden, gilt als ähnlich ausgebuffter Politiker wie Erdogan. Der Staatschef sei offen für alle Koalitionen, berichtete Baykal nach dem Gespräch, halb gönnerhaft, halb geschmeichelt von der unerwarteten Einladung. Erdogan habe verstanden, dass so bald wie möglich eine neue Regierung gebildet werden müsse. Die konservativ-islamische AKP steht seit der Wahlniederlage vom Sonntag unter Schock - und erst recht Erdogan, der die Führung nach seinem Wechsel ins Präsidentenamt nur formal abgegeben hat.

Kalkül hinter Freundlichkeit

Doch in Wahrheit sei alles anders, schreiben die Ankara-Insider in den türkischen Medien. Hinter aller neuen Freundlichkeit verberge sich kaltes Kalkül: Erdogan will ein Scheitern aller Koalitionsversuche, er will Neuwahlen. Die kann er, sobald der Auftrag zur Regierungsbildung erteilt ist, nach der Frist von 45 Tagen ansetzen. "Schaut selbst, sie haben nichts zustande gebracht", könnte er sagen und dann versuchen, im zweiten Anlauf die absolute Mehrheit für seine Partei zurückzugewinnen.

Nicht weniger als fünf Szenarien gibt es nun, Neuwahlen miteingerechnet: eine Minderheitsregierung der AKP, geführt vom amtierenden Premier Ahmet Davutoglu; eine Koalition der AKP mit den rechtsgerichteten Nationalisten der MHP; ein Bündnis mit den Sozialdemokraten der CHP, der größten Oppositionspartei; oder eine Regierung ganz ohne AKP, eine Minderheitskoalition von CHP und MHP, von außen unterstützt durch den Wahlsieger, die mehrheitlich kurdische HDP. Eine Regierung der "Normalisierung und Restauration" nennt Sezgi Tanrikulu, ein führender CHP-Politiker, diese Variante.

"Heilung" von der AKP

Die Türkei soll mit einem Bündnis der drei bisherigen Oppositionsparteien von den Jahren der AKP-Herrschaft "geheilt", die Demokratie wiederhergestellt werden. Doch Kurden und Nationalisten sind politische Gegner. So rückt nun erst einmal die Option einer AKP-CHP-Koalition in den Vordergrund, die staatsmännische Verständigung der Konservativ-Religiösen und der Säkularen, die sich die vergangenen 13 Jahre bekämpft haben.

"Die Türkei braucht eine Normalisierung, ein Ende der Polarisierung", sagt auch Aykan Erdemir, Ex-Abgeordneter der säkularen CHP. "Eine große Koalition wäre positiv und effektiv", erklärt der junge Soziologieprofessor aus Bursa, "hätte es nicht die Gezi-Proteste gegeben, die Bomben von Roboski, die Korruptionsaffäre vom Dezember 2013." Unter diesen Umständen sei ein Bündnis mit der AKP heute der Parteibasis gegenüber sehr schwer zu vertreten, sagt Erdemir im Gespräch mit dem Standard. Die AKP und Erdogan im Besonderen hätten ihre Macht missbraucht, kritische Bürger mit Verleumdungskampagnen verfolgt und die Meinungsfreiheit brutal unterdrückt. Roboski ist der Name eines Dorfes nahe der Grenze zum Irak, wo die türkische Armee im Dezember 2011 eine große Gruppe von Schmugglern bombardierte, die sie offenbar für Kämpfer der kurdischen Untergrundarmee PKK hielt; der Vorfall wurde nie ganz aufgeklärt, die Regierung und der damalige Premier Erdogan entschuldigten sich nicht für das Unglück.

Abwägen der Optionen

Wenn keine große Koalition in der Türkei, was also dann? Ein Teil der politischen Beobachter hält ein Bündnis zwischen AKP und MHP noch für das wahrscheinlichste Ergebnis. Denn außer Erdogan und seinen Beratern findet niemand die Idee von Neuwahlen recht attraktiv; nicht die neuen Abgeordneten, die viel Geld investiert haben und nun wenigstens zwei Jahre im Parlament sitzen wollen, um Anspruch auf die Pension zu erhalten. Und erst recht nicht Davutoglu, der Premier und langjährige Außenminister Erdogans. Er hat Erdogans Drängen auf die Einführung eines Präsidialsystems zögerlich unterstützt und könnte bei Neuwahlen schon im August als AKP-Chef abgelöst werden.

Die Niederlage der AKP hat auch im Lager der Konservativ-Religiösen Dynamiken ausgelöst. "Erdogan hat gesehen, dass Erdogan nicht länger ein Trumpf, sondern eine Bürde ist", sagt der CHP-Politiker Erdemir. Ähnlich wie die Sozialdemokraten, aber vermutlich pragmatischer und machtorientierter werden die Nationalisten der MHP der AKP Bedingungen stellen: zuallererst "Fesseln" für Erdogan, der sich nicht länger in die Tagespolitik einmischen soll. (Markus Bernath aus Istanbul, 13.6.2015)