welt.de, 14.06.2015

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Nichte von PKK-Chef

Das türkische Parlament hat jetzt eine Öcalan

Die Kurden in der Türkei kriegen sich vor Freude kaum noch ein: Die Nichte des PKK-Chefs Abdullah Öcalan wurde ins Parlament gewählt. Wenn ihr Name künftig in Debatten fällt, ist das ein Politikum. Von Deniz Yücel

Dem türkischen Parlament in Ankara steht eine Premiere bevor, wenn es hier demnächst heißt: "Das Wort hat nun Sayın Öcalan"; "Gestatten Sie eine Zwischenfrage von Sayın Öcalan?" oder gar: "Ich rufe nun zur Abstimmung den Gesetzesantrag von Sayın Öcalan".

Angesprochen wird natürlich nicht der auf der Insel İmralı inhaftierte und zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilte Chef der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) Abdullah Öcalan, sondern dessen Nichte Dilek, die Tochter seiner Schwester Fatma. Mit 27 Jahren ist Dilek Öcalan die jüngste Abgeordnete des neuen Hauses, gewählt für die Demokratische Partei der Völker (HDP) in Öcalans Heimatprovinz Urfa.

Viele Anhänger der HDP reden mit einer diebischen Freude über ihre Wahl. Denn die Anrede "Sayın Öcalan" ist ein Politikum – und war bis vor Kurzem Gegenstand von Gerichtsprozessen. Hunderte Politiker, Rechtsanwälte und Journalisten wurden deswegen zu Haftstrafen von bis zu zweieinhalb Jahren verurteilt (Link: http://www.welt.de/1076101) ; sogar Recep Tayyip Erdoğan musste Ende 2007 wegen eines Interviews aus seiner Zeit als Oppositionspolitiker eine symbolische Geldstrafe bezahlen.

Auch nachdem der Justizapparat von Gefolgsleuten der AKP und der Gülen-Gemeinde übernommen wurde, erkannten Gerichte in der bloßen Höflichkeitsform den Straftatbestand der Terrorismusverherrlichung. Mehrfach befasste sich der Oberste Gerichtshof damit, ehe im Oktober 2013 der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied, die inkriminierte Anrede sei von der Meinungsfreiheit gedeckt.

Die traditionelle türkische Höflichkeitsform benutzt den Vorname "Tayyip bey" (Herr Tayyip) oder "Angela hanım" (Dame Angela). Doch bei amtlichen Dingen ist die neuere Anrede "sayın" (geehrt) gebräuchlich. Da die türkische Grammatik keine Geschlechter kennt, ist diese bei Männern und Frauen identisch: "Sayın Erdoğan", "Sayın Merkel" oder eben "Sayın Öcalan".

Politisch umstritten ist sie immer noch. So sprechen Politiker der ultranationalistischen MHP und manche Medien prinzipiell nur vom "İmralı-Monster" oder "Kindermörder", während Anhänger der kurdischen Bewegung gern den entpersonalisierten Titel Önderlik, "die Führung", benutzen. "Sayın Öcalan" wäre da so etwas wie die bürgerliche Mitte. Und eine Form der Anerkennung.

Das weiblichste Parlament aller Zeiten

Um Anerkennung und Repräsentation geht es in der Identitätspolitik immer, um Zeichen, Gesten und Symbole. Und die kurdische Bewegung liebt Symbole. Das zeigt auch die Abgeordnetenliste der HDP, die sich nicht bloß als Kurdenpartei versteht, sondern eine allgemeine Demokratisierung fordert.

Neben Kurdenpolitikern, Sozialisten, Liberalen und muslimischen Konservativen finden sich unter ihren neuen Abgeordneten etliche, bei denen es auch um symbolische Repräsentation geht: eine Jesidin (Link: http://www.welt.de/141772265) und ein Jeside, mehrere Aleviten, zwei kopftuchtragende Frauen, ein Aramäer, ein Armenier und die erste offen homosexuelle Abgeordnete der türkischen Geschichte.

Die HDP-Fraktion wird die bunteste sein – und die weiblichste: 32 ihrer 80 Abgeordneten sind Frauen, 40 Prozent der Fraktion und rund ein Drittel aller weiblichen Abgeordneten. So wird das Parlament künftig eine Frauenquote von 17,5 Prozent aufweisen, ein historischer Rekord. Wenn es einen gibt, der behaupten kann, das alles in die Wege geleitet zu haben, dann ist es Abdullah Öcalan.

Die Westausdehnung der alten Kurdenpartei als Dachpartei mit Platz für kleinere linke Organisationen und parteilose NGO-Aktivisten war seine Idee. Öcalan drängte darauf, das Risiko einzugehen, nicht länger mit nominell unabhängigen Kandidaten, sondern mit Parteilisten anzutreten. Im "Demokratischen Konföderalismus", den er vor gut zehn Jahren als "neues Paradigma" ausrief, spielen Frauen eine wichtige Rolle; die kurdische Bewegung hat inzwischen alle Funktionen und Ämter mit quotierten Doppelspitzen besetzt – Öcalans unumstrittene Führungsrolle freilich ausgenommen.

Dilek Öcalan indes zählt nicht zu den prominenten kurdischen Politikerinnen. Trotz der Aufmerksamkeit, für die ihre Kandidatur sorgte, gibt es bisher keine Interviews, kaum öffentliche Reden, kaum Äußerungen auf Facebook (Link: https://www.facebook.com/pages/Dilek-%C3%96calan-Hdp-%C5%9Eanliurfa-Milletvekil-Adayi/1567669580177552) und auf Twitter (Link: https://twitter.com/OcalanDilek) , was in der türkischen Politik selten ist. Bekannt ist von ihr nur, dass sie 1987 geboren ist, Tourismuswirtschaft in Mersin studiert hat, im Frauenreferat einer Bezirksverwaltung in Diyarbakır gearbeitet hat, nun ein Zweitstudium der Soziologie absolviert - und eben Nichte ist.

"Die Türken, die uns im Westen gewählt haben, finden unseren Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş sympathisch, aber der Name Öcalan wirkt auf viele abschreckend", erklärt ein HDP-Sprecher diese Zurückhaltung. Aus der Partei hört man zuweilen, dass sie zu unerfahren und zu wenig redegewandt sei und Angst habe, etwas Falsches zu sagen.

"Ich glaube, mein Bruder wusste nichts davon"

Offene Kritik an ihrer Nominierung formuliert hier keiner, aber dafür ein anderer Öcalan: "Ich glaube, mein Bruder wusste nichts davon", sagte Mehmet Öcalan einer Reporterin der Nachrichtenagentur Doğan, die ihn bei der Feldarbeit in einem Dorf bei Urfa fand (Link: http://www.hurriyet.com.tr/gundem/28707953.asp) . Allerdings sei das nur seine Vermutung, schließlich habe er seinen Bruder seit Monaten nicht besuchen dürfen. Er selbst habe nichts dagegen, dass seine Nichte in die Politik gehe, doch komme das Parlament für sie zu früh.

Einer Interviewanfrage der "Welt" sagte Dilek Öcalan nur unter der Bedingung zu, dass die Fragen schriftlich eingereicht würden – ihr erstes Interview überhaupt. Ja, schrieb sie in ihrer knappen, nicht auf alle Fragen eingehenden Antwort, ihr Onkel Abdullah sei tatsächlich nicht informiert gewesen, vielmehr habe der Frauenverband sie vorgeschlagen.

Über sich selbst führt sie aus: "Ich bin in den neunziger Jahren aufgewachsen, als der Krieg in Kurdistan besonders deutlich zu spüren war – Menschen wurden auf offener Straße erschossen, Dörfer entvölkert. Jedes Mal, wenn Soldaten bei Gefechten ums Leben kamen, richteten sich alle Augen auf uns. Als junges Mitglied der Öcalan-Familie bekam ich meinen Anteil davon ab."

Was ihr Onkel für sie bedeute? "Die Führung (Sayın Öcalan) ist ein Philosoph, der den gesamten Nahen Osten aufklärt. Seine Nichte zu sein, bedeutet für mich eine Würde, die man nicht beschreiben kann. Und ich weiß, dass Millionen Menschen sehr vieles dafür opfern würden, an meiner Stelle zu sein. Ich werde alles tun, um meiner Verantwortung gerecht zu werden." Sie werde darauf bestehen, dass niemand im Parlament auf die Anrede "Dilek hanım" ausweiche, sondern sie mit der üblichen Formel "Sayın Öcalan" angeredet werde. Damit dieser Coup gelingt muss sie nur noch eines tun: reden.